Die 100 Jahre sieht man ihr nicht an. Die feuerrote Ardie „Minimax“ zählt zu den prächtigsten Schaustücken des Museums Industriekultur, gleichzeitig ist sie Forschungsgegenstand von Historikern. Denn die frühen Motorräder zeigen, wie alle Ur-Formen von Lebewesen und Maschinen, die wichtigsten Bestandteile in unverstellter Ausprägung. Was dazu gehörte, erklärt Motorradspezialist Matthias Murko am Modell: Klicken Sie auf die Einzelteile, dann öffnet sich die Erklärung.
Der Ständer
Die Ardie hat nicht nur einen, sondern gleich zwei Ständer: einen fürs Vorder- und einen fürs Hinterrad. Geschuldet ist dies den zu erwartenden, häufigen Reparaturen. Siehe Ersatzteile.
Das Leuchtmittel
Technisch gesehen handelte es sich bei dem Scheinwerfer um eine Karbidlampe. In einem Gefäß unterhalb des Sattels befand sich Calciumcarbid, das mit Wasser betropft wurde. Das entstehende Gas zündete im Scheinwerfer, die Flamme wurde von der verspiegelten Rückfläche reflektiert und verstärkt. Vorteil der Karbidlampen: Sie waren zuverlässig und so einfach, dass auch Laien die Lampen schnell wieder funktionsfähig machen konnten.
Der Motor
Ganze 3 PS schaffte der Einzylinder-Zweitakt-Motor der Ardie. Er beschleunigte die 85 Kilogramm schwere Maschine und ihren Fahrer auf eine Höchstgeschwindigkeit von 60 Stundenkilometern – damals affenschnell. Der Zweitakter, der heute nur noch Trabis und Mofas antreibt, war damals High-Tech. Er besaß keine Ventile, benötigte demzufolge keine Ventilsteuerung und war einfach zu bauen. Im Inneren sorgte eine Zahnradkaskade – statt einer verschleißanfälligen Primärkette – für die Kraftübertragung. Dass der Motor gehörig lärmte und die Luft verpestete, spielte in den 1920er Jahren keine große Rolle.
Der Scheinwerfer
Scheinwerfer waren in den Anfangsjahren des Motorrads – das erste Serienmotorrad wurde 1894 produziert – ein Extra. Die Ardie besitzt einen großen Scheinwerfer vorn, hinten aber kein Rücklicht. Es ging hauptsächlich um das Sehen, denn es gab so gut wie keine Straßenbeleuchtung und nur wenige Straßen waren gepflastert oder gar asphaltiert.
Der Tank
Der Tank verpasste der Ardie „Minimax“ ihren Namen. Er ähnelt den gleichnamigen Feuerlöschern in Form und natürlich der Farbe! Eine Füllung reichte ungefähr 220 Kilometer weit, getankt wurde ein Gemisch von Benzin und Öl im Verhältnis von 9:1. Dass der Tank so niedrig angebracht war, sorgte für die gewünscht niedrige Sitzposition (Sattelhöhe 72 Zentimeter).
Die „Karosserie“
Im Gegensatz zu heutigen, vollverkleideten Motorrädern, sind ihre Einzelteile gut zu erkennen. Deutlich treten bei der Ardie ihre Vorfahren hervor: Lenker, Speichen, Sattel und Gepäckträger ähneln denen der Fahrräder sehr. Die Schutzbleche allerdings sind tief herabgezogen, um die Hosen des Fahrers vor Spritzern zu schützen, die Füße stehen – statt auf Rasten – auf bequemen Trittblechen, die möglicherweise noch von den Kutschen entlehnt sind.
Der Antrieb
Das Riemen-Prinzip kannte man aus den Werkstätten, wo Lederriemen die Motorkraft von einer rotierenden Welle auf die Maschinen übertrugen. Auch die Ardie wurde von einem gewebten Riemen angetrieben, der am Motor über eine Schwungscheibe lief und die hintere Achse antrieb. Eine Kette wäre prinzipiell möglich gewesen, doch galt der Verschleiß als zu hoch. Ketten und Kugellager wurden erst später perfektioniert.
Die Bremsen
Um es gleich zu sagen: Die Ardie fuhr gut, bremste aber bescheiden. Hand- und Fußbremse wirkten beide auf eine Klotzbremse, die auf die Riemenscheibe am Hinterrad drückte. Der Bremsweg betrug bis zu 200 Meter. Von den Fahrern verlangte dies also große Umsicht oder besondere Risikobereitschaft...
Die Ersatzteile
Am Gepäckträger befinden sich gleich zwei Kästchen für Werkzeug und Flickzeug. Die Straßen waren schlecht, der Verschleiß hoch und die Motorradfahrer offensichtlich ihre eigenen Mechaniker. Wer eine längere Strecke vor sich hatte, tat zudem gut daran, mindestens einen Schlauch und vielleicht sogar einen Reifen mitzunehmen – denn spitze Hufnägel lagen zuhauf auf den Straßen. Reifen transportierten die Fahrer praktischerweise über die Schulter und um den Oberkörper drapiert. Heutzutage sind dagegen schlauchlose Gummireifen die Regel.
Das Getriebe
Motor und Getriebe sind in einem Gehäuse untergebracht. Über eine Kork-Lamellen-Kupplung wurden die drei Gänge per Hand geschaltet. Sowohl diese Schaltung wie auch ein ruhiger Motorlauf verlangten Fingerspitzengefühl: Über einen kleinen Hebel konnte die Zündung zum Anlassen verstellt und während der Fahrt entsprechend angepasst werden.
Der Reservetank
Der zweite, kleinere Tank am Gepäckträger hatte die Historiker zunächst verwirrt. War er für Öl gedacht? Nein, auch er wurde mit Gemisch befüllt. Denn Öl war leicht zu besorgen im Gegensatz zu Benzin. Anfang der 1920er Jahre kauften Motorradfahrer „die braune Brühe“ noch in Apotheken, die erste Tankstelle in Nürnberg eröffnete erst 1926.
Die Stoßdämpfer
Die Stoßdämpfer der Ardie sind, zugegeben, Low-Tech. Zwei Federn unterm Sattel mussten für den Sitzkomfort des Fahrers genügen. Die Federgabel vorn dämpfte die Stöße aufs Handgelenk, vor allem aber sorgte sie für eine bessere Straßenlage der Maschine: Das Vorderrad haftete besser am Untergrund. Den Pionieren unter den Motorrad-Konstrukteuren war ein verhängnisvoller Irrtum unterlaufen, sagt Matthias Murko: Je starrer und härter der Rahmen, dachten sie, desto haltbarer das Motorrad. Das Gegenteil ist der Fall, gerade bei schlechten Straßenverhältnissen muss der Rahmen nachgeben und sich verwinden können. Weil er das bei den frühen Maschinen nicht konnte, war Rahmenbruch eine der häufigsten Unfallursachen.
Entwickelt und gebaut wurde das Motorrad von Arno Dietrich, der bei Triumph gearbeitet hatte und sich dann mit eigener Werkstatt selbstständig machte. Ein typischer Gründer und Tüftler, der Neues erfand, Bestehendes optimierte und ab 1919 selbst produzierte. Bei einer Testfahrt in der Rothenburger Straße kam er 1922 tragisch ums Leben.
Sein Unternehmen bestand weiter: Die erfolgreiche „Minimax“, ein Einzylinder-Zweitakt-Motorrad, wurde bis 1924 hergestellt, 1925 wurde die Modellpalette erweitert und mit britischen Motoren ausgerüstet. Die meist feuerroten Maschinen waren mehr als reine Nutzfahrzeuge, ihr schnittiges Design begeistert Motorradfans bis heute. Und weil Ardie etliche Deutschlandrallyes und Zuverlässigkeitsfahrten gewonnen hatte, wurde sie zum Verkaufsschlager.
Was fehlt?
Ein Detail unterscheidet die Ardie fundamental von heutigen Motorrädern: Der Startknopf oder ein Kickstarter fehlen. Erst 1922 wurden die Ardie-Maschinen serienmäßig mit Kickstarter ausgerüstet. Die Ardie aus dem Museum Industriekultur musste angeschoben werden. Sobald der Motor drehte, sprang ihr Fahrer auf. Um die Maschine auszuschalten, würgte er sie ab.
Informationen zum Motorradmuseum im Museum Industriekultur