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25 / 10 / 2018

„Maurers geniales Aufblitzen am Autohimmel“

Das Museum Industriekultur zeigt fünf staunenswerte Automobile

Die Geschichte um das Bild ist prima, ausgedacht hat sie sich der angehende Technikjournalist Andreas Straubinger: Ende Oktober 1906 – so seine Phantasie − knarzte ein rot lackiertes Automobil dröhnend die 52% steile Freitreppe vorm Nürnberger Apollo-Theater herauf. Die Maschine ächzte Stufe um Stufe nach oben, inmitten staunender Menschen, Benzingeruch verbreitend, neuartig, laut. Am Steuer saß der Arzt Heinrich Hildebrandt, der, eingedenk seines fortgeschrittenen Alters, Stufen selbst nicht mehr richtig steigen konnte und zum letzten, dramatischen Hilfsmittel griff: Er steuerte sein Automobil bis zur ohnmächtigen Dame dort oben auf dem Treppenabsatz! Helfen wollte er, und er tat es. Soweit die Fiktion.

Im Museum Industriekultur wird das historische Werbefoto nachgestellt. Foto: Erika Moisan

Denn Hildebrandt gab es nicht. Die Arzt-Geschichte ist frei erfunden. Wohl aber den Ort, das Auto und das Foto einer solchen Szene, damals aufgenommen tatsächlich vorm Apollo-Theater, aus PR-Zwecken! Immerhin, Ruhm und Dank der Zuschauer wären einem solchen Arzt gewiss gewesen: Das fotografierte Fahrzeug − eines der Marke „Maurer-Union“ − sollte schließlich seinem Ruf als modernes „Doktorauto“, mit der Fähigkeit, große Steigungen zu meistern, gerecht werden. Deshalb ein pfiffiges Werbebild!

Das Fahrgestell aus Holz, die rote Motorhaube aus Stahlblech, Karbidlampen – man saß in diesem Gefährt beinahe mondän, und „ein Maurer“ sah so aus: Ein Zwitter aus aktuellem Komfort und traditioneller Kutsche war es, quasi eine Kutsche ohne Pferde. Ein Fahrzeug für eher reiche Menschen, wer konnte sich so etwas schon leisten?

Ludwig Maurer hatte einen Geistesblitz

Und die Vorgeschichte? Der „Doktorwagen“ war eine bemerkenswerte Erfindung des Ludwig Maurer. Was geschah in den 1910er Jahren an der Noris? Automobile gab‘s ja schon seit den 1880-ern, doch Maurer, der gebürtige Allgäuer, hatte davon geträumt, selbst eines zu bauen. 1897 war er nach Nürnberg gekommen. Der Mann mit der Brille und dem mächtigen Vollbart war ein Tüftler, grübelte ein Jahr lang an seiner Erfindung, und dann war es soweit: Was in Amerika beinahe schon gang und gäbe war, Automobile für (fast) Jedermann, wollte er auch in Deutschland salonfähig machen. Fahr- und Motorräder hieß es zu übertrumpfen –, auch deshalb entwickelte er den „Reibrad-Motor“. Etwas völlig Neues.

Sehr allgemein, seit 1897 wurden Straßen der Noris zunehmend geteert und beleuchtet – sehr deutsch: Es gab vom Magistrat bereits Führerscheine, Kfz-Kennzeichen und seit 1902 Geschwindigkeitsbegrenzungen (auf 15 km/h)! Die „braune Brühe“ im übrigen, Benzin, erhielt man kanisterweise im Kolonialwarenladen oder der Apotheke. Maurer wurde der erste Fahrlehrer der Stadt, der erste hiesige Führerscheininhaber!

Heute ist von seinem ohnehin selten gebauten Fahrzeugtyp nur noch eine „Handvoll“ weltweit erhalten. Im Nürnberger Museum Industriekultur – erklärt dessen ehemaliger Leiter Matthias Murko – stehen drei davon, sowie ein Fahrzeug von Victoria und eines von Mars (beide Nürnberger Fahrradhersteller, die die Reibrad-Kraftübertragung in Lizenz anwendeten). Der typische „Doktorwagen“, mit welchem so mutig die Freitreppe erklommen wurde – zumindest fürs Foto! −, ist auch darunter. Fahrbereit. Im Prinzip.

Technik erforderte handwerkliches Geschick

Denn, so spricht Murko aus eigener Erfahrung: „So eine Chaise zu bewegen ist schwer. Eigentlich hätten die Lenker zugleich Mechaniker sein müssen.“ Die Technik war ja auch sehr speziell, es handelte sich um ein „stufenloses Planscheibenreibrad-Getriebe“. Heißt, ein lederbezogenes Reibrad wurde (mit einem Lenkgestänge vom Fahrersitz aus) so über eine rotierende Schwungscheibe gehebelt − je nach Tempowunsch −, dass dieses Rad das Kraftpotenzial der Scheibe im rechten Winkel aufnahm und über eine Kette und eine Welle mit 4 PS an die Hinterräder weitergab. Klingt kompliziert, ist im Museum aber wunderbar anzuschauen und im Prinzip simpel. Maurers Erfindung brauchte keine Kupplung, kein Getriebe. Entscheidend sind die felgenradgroße Schwungscheibe und die Handhebel.

Dieser Clou bestimmte sein Leben. Seine „Nürnberger Motorfahrzeugefabrik“ eröffnete Maurer 1899, er schuf 400 Arbeitsplätze. Denn immerhin boomte seit geraumer Zeit der Individualverkehr, und nicht nur Städter wollten immer schneller vorankommen (wenn sie auch über die rasenden, Pferde scheuenden, Staub aufwirbelnden „Benzinkutschen“ fluchten).

„Zur Erinnerung an die Maurer Union Fahrzeuge 1902.“

Doch leider auch entscheidend: Maurers Technik setzte sich selbst physikalische Grenzen! Fakt ist, dass mit immer höherem Tempowunsch das stählerne Schwungrad in eine solch hohe Drehzahl versetzt wurde, dass das Reibrad die Kraftkopplung nicht mehr abnehmen und weiterleiten konnte. Ab einem bestimmten Tempo rutschte das Rad schlicht wirkungslos über die silbrige Planscheibe, die Chaise wurde nicht schneller. Anders ausgedrückt: Bei einer „langsamen“ Einzylinder-Technik funktionierte das noch, doch je größer der Geschwindigkeitswunsch, umso mehr Zylinder waren vonnöten, umso höher die Drehzahl, umso schlechter war die Kraftübertragung.

Eine Postkarte um 1904 zeigt einen „Maurer-Union-Wagen“ am Bahnhofsplatz.

Und weil andere Automobile eben eine bessere Übertragung der Motorkraft einsetzten (bald etwa in den USA), war Maurers Traum zwischen 1900 und 1910 schon wieder ausgeträumt. Die einzige bemerkenswerte Automobil-Fabrik, die es in Nürnberg je gab, musste wieder schließen, der I. Weltkrieg tat ein Übriges. In der Reibrad-Idee funkte Maurers Geistesblitz für ein Jahrzehnt auf, war der damals 25-jährige ein kleines Genie? Reich wurde er jedenfalls nicht mit seinen Fahrzeugen des „Systems Maurer“, er baute noch Motorräder, betrieb eine Reparaturwerkstatt. 1926, als es in Nürnberg die ersten beiden Tankstellen gab und Autos nach dem Krieg wieder en vogue wurden, war Maurer bald vergessen.

Werbeplakat der Nürnberger Motorfahrzeuge-Fabrik „Union“ GmbH aus dem Jahr 1905.

Heute erinnert das Museum Industriekultur an diese spannende Episode der Automobil-Geschichte. Und nebenbei – wer sich nicht nur für benzingetriebene Autos interessiert, der erfährt dort auch: Elektroautos waren bereits um 1900 ein Opfer der Verbrennungsmotor-Lobby − ein Nischenprodukt, das mit einer Batterieladung immerhin fast 30 Kilometer weit kam. Maurer nutzte eine andere, seine eigene Idee. Wenn auch nur kurz.

Informationen zum Museum Industriekultur


Bildnachweis für alle Fotos: Museum Industriekultur

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