Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich Nürnberg vom beschaulichen Mittelalterstädtchen in eine florierende Industriemetropole verwandelt. Verantwortlich für den ökonomischen Aufschwung waren Unternehmen wie die Maschinenbauanstalt von Johann Wilhelm Späth, die Cramer-Klett‘sche Waggonfabrik, die Zeltner‘sche Ultramarinfabrik oder die Bleistifthersteller Faber, Staedtler, Schwanhäußer und Lyra. Der wirtschaftliche Boom allerdings ging einher mit einer zunehmenden Wohnungsknappheit. Für ihre stetig expandierenden Fabriken benötigten die Unternehmer schließlich auch Arbeiter – viele Arbeiter, um genau zu sein. Lebten im Jahre 1890 noch rund 140.000 Menschen in Nürnberg, waren es zwanzig Jahre später bereits über 330.000. Anders ausgedrückt: Die Stadt platzte aus allen Nähten.
Von London nach Nürnberg
Für ausladende städtische Gartenanlagen, wo jedermann Flanieren und dem Müßiggang frönen konnte, war unter diesen Voraussetzungen kein Platz mehr. Grünflächen wie das Maxfeld, die Rosenau oder die Platnersanlage mussten nach und nach dringend benötigten Wohngebieten weichen. Viel hätte nicht gefehlt, und man hätte dem beharrlichen Drängen der Industriemogule Cramer-Klett, Faber und Co. nachgegeben und auch noch die Stadtmauer geschleift und den Burggraben zugeschüttet. Schließlich galten die mittelalterlichen Wehranlagen aus Sicht der einflussreichen Firmenbosse als Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit, die einem modernen Industriestandort nicht nur nicht gut zu Gesicht standen, sondern überdies auch noch ein weiteres Wachstum der Stadt unnötig behinderten.
Um der Überbevölkerung und dem mit ihr einhergehenden Verlust von Grünflächen und Naherholungsgebieten entgegenzuwirken, mussten neue Konzepte her. Fündig wurde man bei den „garden cities“ des Londoner Stadtplaners Ebenezer Howard. Dessen städtebauliche Theorie sah eine Symbiose von ländlichem und städtischem Leben vor, bei der Großteile eines Siedlungsgebiets ganz bewusst als Garten- oder gar Ackerfläche angelegt wurden. Neue Stadtteile sollten nach Howards Vorstellung als weitestgehend eigenständige Trabantenstädte mit eigenen Kultur- und Verwaltungszentren, Geschäften und Betrieben kreisförmig um die Kernstadt herum angelegt und mit dieser über Straßen und Bahnstrecken verbunden werden.
Zwei Zimmer, Küche, Bad … und Garten
In Deutschland war Howards Idee bereits auf fruchtbaren Boden gefallen und in Hellerau bei Dresden äußerst erfolgreich in die Tat umgesetzt worden. Unter der Federführung des Münchener Architekten Richard Riemerschmid bekam dann ab 1908 auch Nürnberg seine Gartenstadt. In einem ehemaligen Waldstück südlich des Rangierbahnhofs errichtete man in mehreren Bauphasen 220 Wohnungen – zumeist zweigeschossige Einfamilienhäuser mit einem eigenen Eingang, durchschnittlich 59 Quadratmetern Wohnfläche und, natürlich, einem eigenen kleinen Garten. Der Baugrund selbst war unter genossenschaftlicher Verwaltung und damit vor Spekulationen gefeit.
Auch bei anderen Bauvorhaben orientierte man sich in Nürnberg mal mehr und mal weniger erfolgreich an Howards Gartenstadt-Konzept. So wurde beispielsweise 1910 auf Betreiben des MAN-Direktors Anton von Rieppel im Südwesten Nürnbergs die Werderau errichtet, eine Siedlung, deren weitläufige Bebauungsweise – komplett mit Gebäuden im Stile von Landschlösschen, Pförtnerwohnungen und landwirtschaftlichen Gütern – sich vor allen Dingen an Beamte und Bürger mit höherem Einkommen richtete. Die Siedlung des Siemens-Schuckert-Werks an der Frankenstraße hingegen wurde auf so engem Raum aufgezogen, dass von einem „ländlichen“ Leben in der Stadt kaum noch die Rede sein konnte.
Ein Stück lebendige Stadtgeschichte
In den folgenden Jahren entspannte sich die Situation am Nürnberger Wohnungsmarkt allmählich, auch aufgrund der konsequenten Stadtteilentwicklung in der Gartenstadt. Bis zum Kriegsausbruch 1939 hatte man dort bereits weit über 1.200 Wohneinheiten errichtet. Ein Großteil der Gebäude wurde während der Bombardierung der Stadt allerdings beschädigt oder zerstört: Die Nähe zum kriegswichtigen Rangierbahnhof hatte sich als fatal erwiesen. Der Wiederaufbau nach Kriegsende ging jedoch zügig voran, und bald waren nicht nur die Häuser wieder hergerichtet, sondern auch das gesamte noch zur Bebauung ausgewiesene Areal erschlossen. Heute steht die Nürnberger Gartenstadt unter Denkmal- und Ensembleschutz und bietet Wohnraum für rund 7.500 Personen – von denen die meisten noch immer ihren eigenen Garten haben.
Dieser Beitrag basiert auf dem Artikel „Nürnberger ‚Spazierplätze‘. Zur Geschichte des öffentlichen Grüns“ von Jutta Tschoeke, ehemalige Leiterin des Albrecht-Dürer-Hauses und der Graphischen Sammlung. Er erschien im Katalog „Lust und Lieb hat mich beweget. Nürnberger Gartenkultur“, den die Graphische Sammlung zu ihrer gleichnamigen Ausstellung im Stadtmuseum im Fembo-Haus 2008 herausgab. Wir haben aus diesem Artikel eine Blogserie über Nürnberger Grünanlagen gemacht.
Teil 1: Die Hallerwiese in Sankt Johannis
Teil 2: Der Schmausenbuck im Lorenzer Reichswald
Teil 3: Der Nürnberger Stadtpark
Teil 4: Dutzendteich & Co.
Teil 5: Die Rosenau vor den Mauern der Altstadt