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1 / 9 / 2023

Kunst & Kultur statt Krieg

Denis aus der Ukraine ist fleißig in Nürnbergs Museen unterwegs

Der zweite Geburtstag war ein ganz besonderer Tag für Denis. Er fiel auf den Internationalen Museumstag im Mai und der Eintritt in die Museen war kostenlos. „Warum denn nicht ins Museum? Wir mussten ja wieder anfangen“, erzählt seine Mutter Natalia Shymina. Die Ukrainerin spazierte mit dem Söhnchen ins nahegelegene Museum Industriekultur und Denis gefiel es: so viele Motorräder und Autos, die Küche, die Hands-on-Stationen zur Elektrizität und das historische Klassenzimmer.

Also kaufte seine Mutter eine Jahreskarte – und seither touren die beiden durch verschiedene Museen. Sie waren schon im Spielzeugmuseum und im Albrecht-Dürer-Haus, besuchen aber auch das DB Museum, das Zukunftsmuseum und das Germanische Nationalmuseum. Und kommen immer wieder ins Museum Industriekultur zurück, oft nachmittags nach der Krippe und ganz aus freien Stücken.

So wurde vor Einzug der Computer gedruckt: Setzmaschine in der Druckwerkstatt.

Was ein so kleines Kind vom Museum hat? „Ich unterhalte mich mit ihm“, berichtet Natalia Shymina. „Ich frage: Was siehst Du? Gefällt Dir das? Was gibt es hier – aha, ein Lenkrad. Wozu braucht man das?“ Sie ist überzeugt, dass Denis schon viel versteht. Wie eine Turbine läuft, zum Beispiel, oder wie die große Dampfmaschine funktioniert. „Mit den Museumsmitarbeitern scherze ich, dass er bald selbständig die Führungen machen kann.“

Das klingt positiv, beschwingt – und steht in krassem Gegensatz zu dem, was Natalia und Denis erlebt haben. Natalia erinnert sich an den 23. Februar 2022 als ganz normalen Tag. Ihr Mann Vitaliy war in der Fahrschule, die Familie wollte bald ein Auto kaufen. Dann in der Nacht zum 24. schreckliche Geräusche und Explosionen, am nächsten Tag Chaos in ihrer Heimatstadt Kiew: die Straßen gesperrt, die Supermärkte geschlossen und dazu die Angst vor neuen Angriffen. Ein normales Leben war undenkbar geworden. „Du sollst mit unserem Sohn fliehen“, sagte Vitaliy, der als wehrfähiger Mann nicht ausreisen durfte. Nur mit Koffer, Rucksack und Kinderwagen fuhren sie im Zug nach Lemberg, gingen ein paar Tage später zu Fuß über die Grenze, fanden Plätze in einem Auto nach Polen und kamen mit dem nächsten Auto nach Nürnberg. „Ich hatte keine Vorstellung, wohin ich fahre. Keine Ahnung, wie wir leben sollen. Ich wusste nur: Wir sind in Sicherheit.“

Lernen mit verschiedenen Sinnen: Am Rechenschieber im Historischen Klassenzimmer lassen sich Zahlen „begreifen“.

Natalia Shymina und Denis kamen in Nürnberg bei einer Familie unter, die ein freies Zimmer zur Verfügung stellte. Schon damals, sagt die 43-Jährige, habe sie „geahnt, dass es lange dauern würde“. Sie plante allenfalls von einem Tag auf den anderen. „Man fragt immer, wie geht es weiter?“

Aber Natalia Shymina, die Germanistik studiert hatte, im Goethe-Institut ihr Deutsch verbesserte und die Sprache inzwischen perfekt spricht, ist auch Pragmatikerin. Die Zeit nutzte sie, um einen Krippenplatz für Denis zu suchen und Arbeit zu finden. Seit April 2022 arbeitet sie in Teilzeit im Homeoffice für eine Gesundheitsberatungsfirma. Inzwischen durfte ihr Mann, der Buchhalter ist, aus der Ukraine ausreisen. Über ein Jahr hatten sie nur über Handy telefoniert. „Er kann noch gar nicht glauben, dass er hier ist“, erzählt Natalia. Die Familie hat eine Wohnung im Nürnberger Osten gefunden.

Natalia Shymina setzt ihre Kunst- und Kulturausflüge weiter fort. Sogar in die Frankfurter Schirn sind sie Anfang des Jahres gefahren, um Werke von Marc Chagall zu sehen. „Nur eine halbe Stunde, dann war es Denis genug“, sagt die Mutter. Aber immerhin. Und die Reise mit der Bahn war ohnehin ein Abenteuer fürs Kind. Die Erfahrung mit dem eigenen, jungen Sohn lässt Natalia Shymina weiterdenken. „Ich möchte Eltern inspirieren, dass sie mit ihren Kindern ins Museum gehen.“ Am wichtigsten sei, behutsam anzufangen und die Kinder nicht mit den Exponaten allein zu lassen. Man müsse erklären und „die Eltern müssen sich selbst dafür interessieren“, sagt sie. Oft bereitet sie ihre Museumsbesuche vor, indem sie googelt und sich über die Themen allgemein und Ausstellungsstücke im Besonderen informiert – so dass sie besser und kindgerecht erklären kann.

Keine Angst vor großen Maschinen, hier dürfen sie angefasst werden: Tandem-Dampfmaschine von MAN, 1907. Ihr Schwungrad hat 5 Meter Durchmesser.

Titelbild: Gemeinsam erkunden Denis und seine Mutter Natalia das Museum Industriekultur – hier vor dem frühen Prototypen eines e-Porsche aus dem Jahr 2009. Alle Fotos: Erika Moisan

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