Anna Stengel, geborene Brusnyka, lebt in Langwasser. Ein Spaziergang mit ihr und ihrer Schwester Maria durch den Stadtteil lohnt sich, denn sie erinnern sich beide sehr gut an die 50er/ 60er Jahre, in denen sie hier in den zum Valka-Lager gehörigen Steinbaracken ihre Kindheitsjahre erlebten. Das Valka-Lager entstand auf dem Gelände des ehemaligen Lagers für Teilnehmer der Reichsparteitage. Von 1939 bis 1945 wurde es als Kriegsgefangenenlager und in der Nachkriegszeit als Unterkunft für Displaced Persons genutzt. Seinen Namen erhielt es von der lettisch-estnischen Grenzstadt Valka, da in der ersten Zeit viele Bewohnerinnen und Bewohner aus dieser Region kamen. Über 4.000 heimatlose Ausländer aus 30 verschiedenen Ländern lebten zeitweise im Lager unter teilweise sehr schwierigen Lebensbedingungen. Die Schwestern Anna und Maria erinnern sich auch daran, dass ihre Mutter bereits ein sehr schweres junges Leben hinter sich hatte, bevor sie ihre Kinder bekam.
1921 wird Lisa Hlykeriy Brusnyka in Kriwoy Rog in der heutigen Ukraine geboren. Es ist eine durch Bergbau-Industrie geprägt Stadt. Auch Lisa, die ihre Eltern bereits mit fünf Jahren verliert, beginnt bereits im Alter von 13 Jahren im Bergwerk zu arbeiten. 1943, mit 22 Jahren, wird sie als Zwangsarbeiterin ins Deutsche Reich verschleppt. Bis zum Kriegsende arbeitet sie auf einem Bauernhof in der Nähe von Cham im Bayerischen Wald. Eimerweise reibt sie Kartoffeln für Klöße, erst beim Bauern Heider in Parsberg, später auf einem Hof in Pilsach bei Cham. Nach Kriegsende entsteht auch in dieser Gegend ein Lager für Heimatlose Ausländer. Es ist das Windischbergerdorf. Hier in der Klinik bringt Lisa 1951 ihre Tochter Anna auf die Welt. 1952 werden Mutter und Tochter nach Nürnberg Langwasser verlegt. Den Namen des Vaters gibt Lisa nicht preis. Anna hat über ihren Vater nie etwas erfahren. 1957 wird ihre jüngere Schwester Maria und 1958 der jüngere Bruder Wladimir, genannt Wowa, geboren. Der Vater der jüngeren beiden Kinder ist Anatoly Schwetz – 1920 in Stanislaw in Polen geboren – entstammt er wie die Mutter einer russischsprachigen Familie.¹ 1943 gerät er in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach dem Krieg dient er sieben Jahre in der Fremdenlegion in den französischen Kolonien, bevor er 1952 in Offenbach entlassen wird und in Deutschland um Asyl ansucht, was zunächst abgelehnt wird.
Dies ist der Grund, der ihn nach Nürnberg bringt, da sich in Langwasser neben den Steinbaracken in einem Teil des Valka-Lagers seit 1954 das Bundessammellager für Ausländer befindet. Es ist die zentrale Anlaufstelle für Asylsuchende, der Vorläufer des heutigen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Hier im sogenannten Ausländersammellager lernt er Annas Mutter Lisa kennen. Sie leben in den Steinbaracken in nächster Nähe der Holzbaracken des Valka-Lagers. Es sind primitive Wohnverhältnisse: drei Einzelräume von 10 bis 15 qm, ein Klosett und eine Wasserzapfstelle im Flur für mehrere Parteien.²
Annas und Marias Eltern haben es in dieser Zeit nicht leicht. Es fehlen ihnen die deutschen Sprachkenntnisse, diejenigen, die über sie verfügen, finden leichter Arbeit. So leben Anna und Marias Eltern weitgehend von der Fürsorge. Dennoch erinnern sich auch Anna und Maria gerne an das nachbarschaftliche Zusammenleben in der Steinbarackensiedlung. So etwa, als in einer Baracke ein Fernseher aufgestellt wird und alle dort zusammenkommen, um „Lassie“ oder „Bonanza“ zu schauen. Im Anschluss spielen die Kinder wieder draußen vor der Tür. Anna und Maria lernen von ihren Eltern die russische Sprache, die zu Hause gesprochen wird und auch von dem hierzu beauftragten Ehepaar Valigurski. In der Schule und mit den Nachbarskindern sprechen sie deutsch. Zunächst besuchen die Schwestern die Valka-Lager-Schule in einer Baracke, als ab 1963 die Adalbert Stifter Schule in der Julius Leber Straße fertig gebaut ist, gehen sie dort zur Schule. Als die Steinbaracken für den Auf- und Ausbau Langwassers abgerissen werden, erhält die Familie eine Wohnung in der Denisstraße in Gostenhof. In unmittelbarer Nähe des neuen Zuhauses ertrinkt Wowa im Alter von sechs Jahren in der Pegnitz am Lederer-Steg. Ein Schock, von dem sich ihre Mutter nie wieder richtig erholen kann.
Zu Weihnachten erhalten die russischsprachigen Kinder Ender von dem Ehepaar Valigurski im Auftrag der Tolstoy-Foundation Geschenke. Alexandra Tolstoi, die jüngste Tochter des berühmten russischen Schriftstellers Leo Tolstoi, hatte die Stiftung im Jahr 1939 nach ihrer eigenen Flucht in die USA gegründet. Die Stiftung kooperierte mit der CIA und hatte ab 1947 ihre Europa-Zentrale in München. Sie half russischen Displaced Persons. Viele von ihnen wollten nicht in ihre Heimat zurück. Da sie dort erneut Haft fürchteten, versuchten sie in die USA zu emigrieren. Etwa 100.000 blieben in Westdeutschland, so auch auch Annas und Marias Eltern.
Anna lebt heute seit vielen Jahren wieder in Langwasser, mit ihrem Mann hat sie drei erwachsene Söhne. 2022 feierte sie mit ihrer Familie sowie mit der Familie ihrer Schwester Maria und ihrer Freundin Monika Riedel aus den Kindheitstagen im Valka-Lager ihre Goldene Hochzeit.
In einem weiteren Blogbeitrag erinnern sich zwei Töchter der Familie Tomic an das Leben rund um das Valka-Lager in den 1950er Jahren
„Was wir damals erlebt haben, glaubt uns heute keiner mehr!“
Darüber wie das Ausland das zeitweise größte Flüchtlingslager Bayerns sah, berichtet der Beitrag
Das Valka-Lager in der englischsprachigen Presse
Literatur:
Werner Brock: LEBEN in einer neuen Stadt. Geschichte und Geschichten vom Bürgerverein Nürnberg-Langwasser, von Menschen und Ereignissen. Nürnberg Langwasser 2003
Anne Kuhlmann-Smirnov: Stiller als Wasser, tiefer als Gras. Zur Migrationsgeschichte der russischen Displaced Persons in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Forschungsstelle Osteuropa Bremen 2005 (Online verfügbar beim Leibnitz-Institut für Sozialwissenschaften)
Bernd Windsheimer: Langwasser. Geschichte eines Stadtteils mit Beiträgen von Martina Bauernfeind. Nürnberg 2007
Pfarrmagazin Nr. 60 2020, März bis Juni, Pfarrverband Langwasser, Thema: 75 Jahre Frieden- Langwasser entsteht
¹ Die wichtigsten „russischen“ DP-Lager, das heißt die Lager, in denen es russischen DPs gelang, sich zu organisieren und kulturelle Aktivitäten zu entwickeln, befanden sich in der amerikanisch besetzten Zone: die Münchener Lager Schleißheim-Feldmoching und SS-Kaserne (später: Warner Kaserne), das Kasseler Lager Mönchehof und das Lager Füssen in Bayern. Nürnberg und Regensburg werden als Erscheinungsorte von Zeitungen und Zeitschriften genannt. In: Anne Kuhlmann-Smirnov: Stiller als Wasser, tiefer als Gras, S. 47
² Werner Brock „LEBEN in einer neuen Stadt. Geschichte und Geschichten vom Bürgerverein Nürnberg-Langwasser, von Menschen und Ereignissen. Nürnberg Langwasser 2003, S.165
Harri König
21 / 5 / 2024 | 7:58
1958 lebte ich für ein Jahr im Valka Lager, bis ich nach Zirndorf ins Lager für ein weiteres Jahr verlegt wurde.