Relikt aus Nürnbergs Blütezeit
Gemeinsam mit den Nachbarregionen Böhmen und Oberpfalz feiert Nürnberg 2016 den 700. Geburtstag Karls IV., einer der prägenden Kaisergestalten des Spätmittelalters. Im Zentrum dieses Jubiläums steht die bayerisch-böhmische Landesausstellung in Prag und im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg.
Karl und Nürnberg ‒ ein großes Thema für die ehemalige Reichsstadt. Nicht umsonst grüßt der Kaiser dort als Kurfürst von Böhmen seit dem Ende des 14. Jahrhunderts als Steinplastik vom Schönen Brunnen auf dem Hauptmarkt (Abb. 1). Denn hier und in den Nachbarstädten Lauf und Sulzbach sollte das Zentrum von „Neu-Böhmen“ liegen, einer Art Landbrücke zwischen Karls Königreich Böhmen und seinen Luxemburger Stammlanden ‒ was lag also näher, als auch in den städtischen Kunstsammlungen nach Objekten mit „Kaiser“-Bezug Umschau zu halten? Und was wäre hier interessanter als ein veritabler Kaiserthron aus dem historischen Rathaus?
Denn immerhin stammt der Große Ratssaal ja tatsächlich aus der Zeit Karls: Als er 1340 fertiggestellt wurde, war der künftige Kaiser als Graf von Luxemburg und böhmischer Thronfolger noch ein junger Mann. So stand ihm bei seinen nicht weniger als 52 Aufenthalten in Nürnberg einer der größten Profanräume nördlich der Alpen zur Verfügung. Die Zerstörung der Stadt 1945 haben nur seine Außenmauern überstanden (Abb. 2), aber zumindest die bewegliche Ausstattung wurde rechtzeitig evakuiert. So ist auch der Thron erhalten geblieben. Aber die leise Hoffnung, auch Karl IV. könnte hier einst Platz genommen haben, hat sich dann doch nicht bestätigt. Denn an der Rückwand des Thrones waren bereits 1987/88 Untersuchungen zur Bestimmung des Holzalters durchgeführt worden, die für die beiden dicken Eichenbretter ein Fälldatum nicht vor etwa 1440 ermittelt haben.
Albrecht Dürer in städtischen Diensten
Zunächst die Fakten: Das 248 cm hohe Möbel zählt zum Bestand der Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg (Abb. 3). Es wurde unter Verwendung älterer Teile von einem unbekannten Nürnberger Meister nach Entwurf Albrecht Dürers um 1520/21 aus Eichenholz angefertigt. Es trägt Schnitzereien, ist farbig gefasst und teilvergoldet.
Heute zeigt der kaiserliche Stuhl eine Mischung aus spätgotischen und Renaissance-Formen, die das Ergebnis von mindestens zwei durchgreifenden Umgestaltungen ist: So finden sich bei den beiden Zwickelreliefs mit den Kämpfenden Formen, die an dekoratives Schnitzwerk von Chorgestühlen des 15. Jahrhunderts erinnern (Abb. 4). Wenn sie keine späteren Imitationen sind, könnten sie aus derselben Zeit stammen wie die merkwürdige Rückwand. Alles übrige ‒ die fein geschnitzten Kapitelle und das obere Rundbogendekor ‒ verweist in die Zeit der durchgreifenden Neugestaltung des Rathauses, die unter künstlerischer Leitung Albrecht Dürers bis 1521 erfolgte. Mindestens bis zur nächsten Renovierung von 1613 stand der Thron vor dem gotischen Erker des 14. Jahrhunderts, wenn der Kaiser in der Stadt weilte. Das Detail aus der Innenansicht des Saals, die Ruprecht Hauer 1658 gemalt hat, gibt genau diese Situation anlässlich der Huldigung Kaiser Leopolds I. wieder (Abb. 5).
Was das Gemälde außerdem zeigt, ist rechts die leere Südostecke. Dies ist wichtig, weil der Sitz damit nicht ‒ wie bisher vermutet ‒ bei der Umgestaltung von 1613, sondern erst deutlich später mit der Wandvertäfelung verbunden wurde, wobei man ihn um einen flachen, heute verlorenen Dreiecksgiebel ergänzt hat. Diese Anbringung taucht nämlich erst in der Ansicht Delsenbachs von 1715 auf (Abb. 6).
1904 schließlich erhielt der Thron mit wenig Feingefühl eine neue Farbfassung, was natürlich Aussagen über die originale Farbigkeit sehr schwierig macht.
Nach dem Krieg hat man den Großen Ratssaal in wesentlichen Teilen rekonstruiert, dabei aber ‒ warum auch immer ‒ den Thron nicht weiter verwendet und 1983 an das Stadtmuseum im Fembo-Haus gegeben.
Die Rückwand ‒ Fragen über Fragen
Mit dem einzigartigen Objekt verbinden sich weit mehr Fragen als Gewissheiten, vor allem beim Blick auf die Rückseite (Abb. 7): Hier weist das massive Möbel bemerkenswert viele Schrauben und Bohrlöcher auf, ebenso zahlreiche kleine Anstückungen und Ergänzungen. Das deutet natürlich auf eine komplizierte Entstehungs- und Veränderungsgeschichte hin. Am interessantesten erscheint dabei, dass die massive, eichene Rückwand vermutlich der älteste Teil des Throns ist ‒ also vielleicht von seinem Vorgänger stammt. Diese Form der Pietät findet sich nämlich auch am steinernen Thron Karls des Großen in Aachen, in dem sogar spätantike Steinplatten verbaut sind.
Doch bemerkenswert ist nicht nur die Verwendung von älterem Material; noch viel erstaunlicher ist es, dass sich diese schwere Rückwand mit Hilfe zweier eisenverstärkter Ösen hoch- oder sogar herausziehen lässt. In den spärlichen Quellen über die Benutzung des Saals findet sich ausgerechnet dafür keinerlei Erklärung. Wir sind also auf Mutmaßungen angewiesen, bei denen vielleicht die sonderbare Übereck-Stellung des Möbels hilft. Denn so ergab sich hinter dem Thron ja automatisch ein Hohlraum über dreieckigem Grundriss, in dem sich relativ sicher Gegenstände aufbewahren ließen, die zwar in Gegenwart des Kaisers, nicht aber während seiner Abwesenheit benötigt wurden. Das ist allerdings nicht mehr als eine vage Vermutung, und sie würde ja auch erst für die Zeit nach dem festen Einbau in der Barockzeit gelten.
In Abwesenheit anwesend: der Kaiser
Zu einem unbekannten Zeitpunkt hat sich also entweder die Stellung vor dem Erker für die normale Nutzung des Saals als unzweckmäßig, vielleicht sogar störend erwiesen ‒ oder es war das genaue Gegenteil der Fall: Auch wenn die Idee etwas merkwürdig wirkt, den repräsentativen Sitz des Reichsoberhaupts buchstäblich „in die Ecke“ zu stellen und ihn fest in die neue Vertäfelung zu integrieren, war der Thron als Sinnbild des abwesenden Kaisers damit doch dauerhaft präsent. Das wurde auch zusehends wichtiger, weil die Kaiserbesuche seit der Reformation 1525 immer seltener wurden, denn das habsburgische Kaiserhaus blieb ja katholisch. Mit der Fixierung des Stuhls in der Ecke waren die Diskussionen über die Aufstellung jedenfalls vorläufig beendet.
Aber all dies sind nur Mutmaßungen; der Kaiserthron verdient eine genauere Untersuchung als eines der herausragenden Erinnerungsstücke an das Heilige Römische Reich ‒ nicht nur für Nürnberg!