Im Sommer 2013 erreichte das Spielzeugmuseum Nürnberg ein Anruf aus Venice/ Florida. Ein gewisser Mr. Pieter Kohnstam wollte von mir als dem damaligen Museumsleiter eigentlich nur wissen, ob mir sein Familienname etwas sage. Er schien hocherfreut, als ich ihm antwortete, es habe doch früher in Fürth ein sehr bekanntes Spielwarenexporthaus namens Kohnstam gegeben. Näheres über die Geschichte dieser Firma sei mir jedoch nicht bekannt, außer dass sie – wie die meisten jüdischen Unternehmen – während des Nationalsozialismus „arisiert“ worden sei. Was allerdings mit der Eigentümerfamilie geschehen sei, wisse ich nicht.
Pieter Kohnstam – Spielgefährte von Anne Frank
Pieter Kohnstam wusste es: Er erzählte mir, wie seine Eltern Hans und Ruth Kohnstam schon 1933 vor den Nazis aus Fürth in die Niederlande hatten fliehen müssen und wie die Firma liquidiert worden sei. In Amsterdam sei er 1936 zur Welt gekommen und habe in jungen Jahren mit einem älteren Nachbarsmädchen namens Anne Frank gespielt, deren bewegendes Tagebuch sie später weltberühmt machen sollte. Als 1942 die deutschen Besatzer begannen, alle in Amsterdam lebenden Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager zu deportieren, entschieden sich seine Eltern, aus der Stadt zu fliehen. Nach einer fast einjährigen, überaus gefahrvollen Flucht durch Holland, Belgien und Frankreich erreichte die Familie Kohnstam im Frühjahr 1943 das katalanische Barcelona. Ein Schiff mit dem schönen Namen „Cabo de Buena Esperanza“ („Kap der Guten Hoffnung“) brachte sie von dort in Sicherheit, in die neue Heimat Argentinien.
Rettung dank vieler Helfer
Pieter Kohnstam wuchs in Argentinien auf, wanderte später in die USA aus und begann nach seiner Pensionierung die abenteuerlichen Erlebnisse der jungen Familie auf ihrer Flucht in die Freiheit niederzuschreiben. 2006 erschien seine ebenso spannende wie bewegende Geschichte unter dem Titel „A Chance to Live“ in den USA, zwei Jahre danach in den Niederlanden. Sie basiert auf einem ausführlichen Text, den Hans Kohnstam Jahre zuvor für seine Nachkommen geschrieben hatte. Sein Sohn Pieter erweiterte dieses Manuskript um die Berichte seiner Mutter und bezog auch viele lange Zeit verdrängte Erinnerungen aus seinen Kindertagen mit ein. Seine Erzählung – geschildert aus der Perspektive seines Vaters – ist ein Stück Erinnerungsliteratur. Es führt anschaulich die Ängste, Hoffnungen und Nöte der Flüchtlinge, aber auch die Hilfsbereitschaft, Solidarität und den heldenhaften Mut jener Menschen vor Augen, die der jungen Familie ein Überleben ermöglichten. Gastwirte und Beamte, Prostituierte und Eisenbahnarbeiter, Adlige und Bauern, Widerstandskämpfer und Priester: Sie alle trugen – unabhängig von ihrer Herkunft, Nationalität und Religionszugehörigkeit – dazu bei, dass ein mutiges Elternpaar mit ihrem tapferen sechsjährigen Kind dem Nazi-Terror entrinnen konnte.
„A Chance to Live“ – eine bewegende Familiengeschichte
Was mit einem langen Telefongespräch begann, setzte sich mit der Lektüre von „A Chance to Live“ fort. Ich las das Buch („a page turner“, wie es auf Englisch so treffend heißt) in einem Zug durch, so sehr faszinierte und bewegte mich diese authentische, zuweilen kaum zu glaubende Geschichte. Spontan entstand der Gedanke, das Buch auch einer deutschen Leserschaft zugänglich zu machen. Ich bat Pieter Kohnstam um die Erlaubnis zur Übersetzung: Pieter was delighted …
Das Fürther Handelshaus von Moses Kohnstam
Parallel zur Arbeit an der Übersetzung (deutscher Buchtitel: „Mut zum Leben“) sowie der Suche nach Sponsoren (Dank an dieser Stelle an den Fürther Spielwarenindustriellen Paul Heinz Bruder und Francis Spear aus Ware, England) und einem Verlag beschäftigte ich mich mit der nahezu unbekannten Historie des Fürther Handelshauses Kohnstam. Sie sollte den familiären und unternehmensgeschichtlichen Hintergrund zu den Schilderungen Pieter Kohnstams aufhellen und in den Fokus rücken. So entstand auf der Basis intensiver Archivrecherchen eine ausführliche Darstellung der Entwicklung von M. Kohnstam & Co., die unter der Überschrift „Mut zum Handel(n)“ im Anhang des Buches abgedruckt ist. Von der Gründung der Firma durch den Kaufmann Moses Kohnstam im Jahre 1865 bis zu ihrer erzwungenen Auflösung im Rahmen der „Arisierungen“ legt sie exemplarisch Zeugnis ab für den außerordentlichen Beitrag jüdischer Unternehmer zur einstigen Weltgeltung der deutschen Spielwarenbranche. Ebenso exemplarisch mutet aber auch das perfide Zusammenspiel von NS-Parteigliederungen, städtischen und staatlichen Behörden, Banken und privaten Profiteuren (vor allem Quelle-Gründer Gustav Schickedanz!) an, mit dem die Liquidierung der Firma Kohnstam nach 1933 betrieben wurde. Die firmengeschichtliche Darstellung beleuchtet diesen Aspekt ebenso ausführlich wie die Wiedergutmachungs-Verhandlungen nach dem Zweiten Weltkrieg.
„Mut zum Leben“ – Familie Kohnstam kommt zur Buchpräsentation in die Heimat ihrer Vorfahren
In diesen Tagen wird „Mut zum Leben“ als Band 10 der vom Bezirk Mittelfranken herausgegebenen Reihe „Franconia Judaica“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Auf Einladung der Stadt Fürth werden Pieter Kohnstam und seine Frau Susan mit Tochter und Enkelsöhnen eigens zur Buchpräsentation in die fränkische Heimat ihrer Vorfahren reisen. Die Vorfreude auf allen Seiten ist groß, sind wir uns doch noch nie persönlich begegnet. Schon erstaunlich, was so alles aus einem „casual call“ entstehen kann, mitten im Sommer, zwischen Venice/Florida und Nürnberg/Fürth …
Bibliographische Angaben
Pieter Kohnstam: Mut zum Leben. Eine Familie auf der Flucht in die Freiheit
Aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Helmut Schwarz
( = Franconia Judaica, Bd. 10, herausgegeben vom Bezirk Mittelfranken durch Andrea M. Kluxen und Julia Krieger)
Würzburg: Ergon-Verlag, 2016
Festeinband, 264 Seiten mit 54 Abbildungen
ISBN 978-3-05650-159-3
19 EUR
erscheint am 21. Juli 2016
Ewald von Ahn
15 / 12 / 2016 | 12:55
Diese Geschichte hat mich sehr berührt, eine sehr traurige Geschichte, aber ich freue mich
darüber, das Sie diese Geschichte veröffentlicht haben.
Deutsches Geschäft – einmal habe ich dieses Schild gesehen, auf Sylt in den 1980ziger Jahren.
Man hatte seinen Platz verändert, ins Büro nach oben.
Dort hat es einen neuen Platz gefunden.
Wenn ich darüber nachdenke werde ich traurig.
Rudolf Rutenbeck
27 / 3 / 2023 | 21:23
Als Matchbox-Bewunderer und Liebhaber hochwertigen Spielzeugs habe ich vor einigen Jahren schon die Geschichte der Familie Kohnstam wahrgenommen. Wieder einmal höchst bedauerlich wie diese unsäglich schlimme Zeit in den 30er Jahren so viel menschlichen Schaden angerichtet hat! Auch wenn es heisst dass sich Geschichte ständig wiederholt, diese Erinnerung muß wachgehalten werden . Ganz herzlichen Dank für dieses wichtige Dokument !