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Eugene Murphy im Kriegsgefangenenlager Langwasser
Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1944 kam Eugene Murphy mit hunderten US-Soldaten in das Kriegsgefangenenlager in Langwasser. Sie hatten eine strapaziöse Reise hinter sich. Zehn Tage vor ihrer Ankunft in Nürnberg war Eugene Murphy mit vielen Soldaten seiner Aufklärungseinheit bei der „Ardennenoffensive“ in Belgien in Gefangenschaft geraten und seither per Fuß und Zug auf dem Weg ins Deutsche Reich. In Langwasser angekommen, kamen die Amerikaner in einen abgetrennten Block, jeweils rund 100 von ihnen in eine Holzbaracke. Noch Jahre später erinnerte sich Eugene Murphy an die unerträgliche Kälte, die geringen Essensrationen und den Angriff der britischen Luftwaffe am 2. Januar 1945 auf Nürnberg, die er als Kriegsgefangener in Langwasser erleben musste. Ende April wurde er von den eigenen Truppen befreit.
Die Erforschung der Lager auf dem Reichsparteitagsgelände
Wir wissen um Eugene Murphy, weil seine Familie im letzten Winter nach Nürnberg reiste, um jenen Ort aufzusuchen, an dem ihr Verwandter gelitten hatte: den Standort des früheren Kriegsgefangenenlagers in Nürnberg-Langwasser. Während ihres Besuches überreichten sie dem Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Fotos und einen autobiografischen Bericht von Eugene Murphy. Sein Schicksal ist eines von rund 200.000 Menschen aus den USA, vor allem aber aus Süd-, Ost- und Westeuropa, die während des Zweiten Weltkrieges in das Kriegsgefangenenlager in Langwasser gebracht wurden. Dieses bereits wenige Tage nach dem Kriegsbeginn 1939 in Betrieb genommene Lager entstand auf dem Reichsparteitagsgelände, im ehemaligen SA-Lager, wo in den Jahren zuvor zehntausende Parteitagsteilnehmer untergebracht worden waren.
Immer wieder wenden sich Angehörige auf der Suche nach Informationen über in Langwasser inhaftierte Familienmitglieder an das Dokumentationszentrum. Allerdings hat der umfangreiche Lagerkomplex, der zwischen 1939 und 1945 auf dem Gelände entstand, bislang in der Arbeit am Dokumentationszentrum nur wenig Berücksichtigung gefunden. Entsprechend gibt es auch keine Sammlungsgegenstände. Seit 2017 wird daher an unserer Einrichtung ein internationales Forschungsprojekt durchgeführt, das die intensive Einbindung des Reichsparteitagsgeländes in die rassistische Kriegsführung und nationalsozialistische Verbrechenspolitik untersucht.
Informationen zum Forschungsprojekt
Im Fokus: Biografien und die Perspektive der Lagerinsassen
Ein besonderes Anliegen ist es, Einzelschicksale zu rekonstruieren und den Lagerkomplex auch aus der Perspektive der dort Inhaftierten zu betrachten. Deshalb sind die Bilder aus dem Besitz von Eugene Murphy besonders wertvoll für uns: Einige Soldaten seiner Aufklärungseinheit haben im Lager private Aufnahmen machen können, die wie das Eingangsfoto oder diese Bilder aus dem Inneren einer Baracke das Leben in Langwasser aus Sicht von Lagerinsassen zeigen. Bislang sind es die einzigen bekannten Aufnahmen dieser Art aus Langwasser.
Auch wenn die meisten Betroffenen nicht mehr leben, so ist es zwar spät, aber nicht zu spät, um Einzelschicksale zu recherchieren: Andere Institutionen haben in den letzten Jahrzehnten Zeitzeugen befragt und private Materialien gesammelt, unter denen sich auch Personen befinden, die während des Krieges in Lagern auf dem Reichsparteitagsgelände waren. Vor allem aber sind viele Angehörige sehr aktiv und suchen in Internetforen nach Informationen zu ihren inhaftierten Verwandten.
Das große Leid der sowjetischen Kriegsgefangenen
Wie viel Material man zu einzelnen Lagerinsassen finden kann, unterscheidet sich fundamental und hängt in starkem Maße von der Staatszugehörigkeit, dem Zeitpunkt der Inhaftierung in Nürnberg und dem militärischen Rang ab. So lassen sich beispielsweise von französischen Offizieren, die human behandelt wurden, viele Privataufnahmen oder Zeichnungen und Erinnerungsberichte zu Nürnberg finden. Dagegen ist es bereits etwas Besonderes, auch nur ein privates Foto zu einem der zehntausend sowjetischen Kriegsgefangenen in Langwasser aufzutun.
Von den über fünf Millionen Rotarmisten, die während des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion in deutsche Gefangenschaft gerieten, starben mehr als 60 Prozent. Das NS-Regime kalkulierte ihr Massensterben, verursacht durch Mangelernährung, Krankheiten und Erschöpfung, gezielt in seine aggressive Kriegsführung mit ein. Sowjetische Kriegsgefangene durften keine Briefe schreiben oder erhalten, wurden nicht von Hilfsorganisationen betreut und mussten unter katastrophalen Bedingungen versuchen, zu überleben. Viele Familien erfuhren jahrzehntelang nichts über das Schicksal ihrer Angehörigen.
Das zu kurze Leben von Wasilij Ismajlow aus Tula (Russland)
Der studierte Nachrichteningenieur Wasilij Ismajlow war 30 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Töchter, als er in Stalingrad gefangen genommen wurde. Noch im Herbst 1942 kam er nach Franken, wo er fortan Zwangsarbeit leisten musste. Mit rund 100 weiteren sowjetischen Offizieren hatte er nach Bombenangriffen Straßen zu räumen und Bombenunterstände zu graben. Bereits 1943 erkrankte er schwer und verbrachte drei Monate im Reservelazarett für Kriegsgefangene, das sich im Kriegsgefangenenlager in Langwasser befand. Den zweiten Lazarettaufenthalt im November 1944 überlebte Wasilij Ismajlow nicht. Er verstarb Ende des Monats und wurde auf dem Südfriedhof beigesetzt. Erst seit wenigen Jahren kennt seine Familie sein Schicksal – dank der jahrelangen Recherchen von Felix Ismajlow, einem Enkel von Wasilij. 2011 besuchte Felix Ismajlow mit anderen Angehörigen erstmals die Grabstätte auf dem Südfriedhof. Sie legten Blumen, Brot und Fotos zum Andenken ab und hielten ihren Besuch in zahlreichen Bildern, Filmen und Alben fest.
Wie die Reise der Familie von Eugene Murphy nach Langwasser zeigt auch dieses Beispiel, wie wichtig es für die Nachkommen ist, Auskünfte über die Gefangenschaft ihres Angehörigen zu bekommen und die Orte des Leidens ihrer Verwandten aufsuchen zu können. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es dem Dokumentationszentrum wichtig, Biografien von Lagerinsassen aus Langwasser vor dem Vergessen zu bewahren. Sie können unsere Arbeit unterstützen, wenn Ihnen Informationen oder Dokumente zu Kriegsgefangenen vorliegen, die während des Zweiten Weltkrieges in Nürnberg-Langwasser inhaftiert waren oder in Nürnberg zur Arbeit eingesetzt wurden oder wenn Sie Menschen kennen, die Informationen zu Angehörigen suchen, die im Kriegsgefangenenlager Nürnberg-Langwasser inhaftiert waren. Rückmeldungen sind herzlich willkommen.
Sie erreichen uns telefonisch oder per Mail unter (0911) 231 – 1 68 94 oder
prisoners-of-war@stadt.nuernberg.de
Dieser Beitrag ist der erste Teil einer Blogserie zum Forschungsprojekt „Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter auf dem Reichsparteitagsgelände, 1939-45“.
Teil 2: Eine unwahrscheinliche Geschichte
Hanne Leßau ist Historikerin am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände.