Fast 20 Jahre lang hat Andreas Kuhnlein seine „Vier Köpfe“ nicht mehr gesehen. Kurz darauf greift der Bildhauer zur Kettensäge. Was ist da los?
Seit seiner Ausstellung „Menschenbilder“ vor 17 Jahren, die den Beginn des Skulpturengartens im Tucherschloss markiert, ist Andreas Kuhnlein nicht mehr dort gewesen. Hat er seine Werke gleich wiedererkannt? „100 Prozent, da kenn‘ ich jedes“, sagt er aufgeräumt. Dabei hat der international renommierte Künstler, der sich seit 1983 ganz der Bildhauerei widmet, mehr als tausend Skulpturen geschaffen und zählt 200 Einzelausstellungen in 16 Ländern zu seinem Portfolio. Seine künstlerische Handschrift ist unverkennbar. „Es gibt ein paar Dinge, die mach‘ nur ich.“
Mit der Motorsäge schneidet er tief und radikal ins Holz, reduziert seine Skulpturen aufs Wesentliche – auf ihre ausdrucksstarke Haltung. Die Köpfe und Körper sind tief eingekerbt, bei einigen Figuren reißt er ganze Fetzen heraus. „Zerklüftete“ nennt Kuhnlein diese Skulpturen, die er mit der Kettensäge aus Eichenstämmen schält – spontan, ohne Zeichnung, aber mit viel Emotion im Bauch.
Brutalität und Verletzlichkeit zugleich
Drei Themen bewegen ihn in seinem Schaffen, sagt Andreas Kuhnlein: „Die Brutalität in uns Menschen, die Verletzbarkeit und die zentrale Wahrheit unserer Existenz, die Vergänglichkeit“. Das Rohe und Unmittelbare ihrer Entstehung ist die Signatur seiner Skulpturen. Deshalb bleibt das Holz unbehandelt, einzig die Spreißel brennt Kuhnlein mit dem Bunsenbrenner ab. „Da ist nichts geschliffen und geschleckt!“
Dass das Holz altert und im Freien Patina ansetzt, passt gut – eigentlich. Die „Stationen des Lebens / vier Köpfe“ waren für den Innenraum gedacht, fanden aber ihren Platz im kleinen Seitengarten der Museumsverwaltung. Das Rasenstück ist von dem wiederaufgebauten Renaissance-Schloss auf der einen Seite und mehrstöckigen Häuserzeilen auf zwei anderen umgeben, meist liegt es im Schatten. Regen und Bodenfeuchte können nicht wegtrocknen.
Pragmatischer Umgang mit der Kunst
Hat die Witterung der Kunst geschadet?“ Das wollte Museumsleiterin Ulrike Berninger wissen und lud Andreas Kuhnlein zur Inspektion ein. Der holte beim Besuch im August gleich die Kettensäge aus dem Kofferraum. Jedem Kunstfreund würde das Herz stehenbleiben, doch der Künstler ist pragmatisch.
Das Arbeiten mit Holz gehört zu seinem Leben. 1953 wurde er im Chiemgau in eine Bauernfamilie geboren, ging nach der Schule bei einer Schreinerei in die Lehre und später zum Bundesgrenzschutz. 1981 übernahm er die heimische Landwirtschaft, arbeitete parallel dazu als Schreiner. Als es im Team knirschte, begann er – für sich allein – Türfüllungen zu schnitzen und Holzdecken zu gestalten. Sein Interesse für die Kunst und den künstlerischen Ausdruck war geweckt.
Zugerichtete Skulpturen als Zumutung
1983 dann wagte er, ohne jede akademische Ausbildung, den Sprung ins Leben als freischaffender Künstler. Und machte sich mit seinen Werken nicht nur Freunde. „Wie kann man eine Skulptur nur so zurichten?“, monierten Kritiker. Und bestärkten Andreas Kuhnlein damit eher in seiner Linie.

Die Skulptur „Großinquisitor“ aus dem Jahr 1997, Römische Thermenruine Badenweiler. Foto: Andreas Kuhnlein
Mit dem „Großinquisitor“ fand Kuhnlein seinen Stil, die kirchenkritische Skulptur brachte 1997 die künstlerische Wende. Sie ist bei ihm in Unterwössen geblieben, unverkäuflich. Andere Werke sind bis in die USA und nach China gegangen. Einige touren regelrecht. „100 bis 150 sind im Sommer immer unterwegs“, erzählt der Bildhauer. So sind die Skulpturen der „Zerklüfteten Antike“, die vor neun Jahren erstmals in der Glyptothek in München ausgestellt wurden, bis vor kurzem in der Thermenruine von Badenweiler zu sehen gewesen. Und bis Ende Oktober präsentiert er in der Burg Burghausen – zum 1000-jährigen Jubiläum der Stadt – mit mehr als 30 Figuren seine Sicht auf „Macht und Vergänglichkeit“.

Die Skulpturengruppe „Einzug der Bischöfe“ in der aktuellen Ausstellung in der Burg Burghausen. Foto: Andreas Kuhnlein
Wie der Baum, so der Mensch
Orte mit geschichtlichem Hintergrund findet Andreas Kuhnlein besonders reizvoll, überhaupt gilt sein Interesse der Historie. Nicht nur der von Kulturen und Ländern, sondern vor allem den Lebens-Geschichten. „Richtig spannend ist der Mensch, wenn er ein Alter hat und gelebt hat“, sagt der Bildhauer. Er entdeckt große Parallelen von Menschen und Bäumen und seinem Werkstoff Holz, an dem man auch so vieles ablesen könne: Jahresringe zeigen das Alter und was die guten und schlechten Jahre waren, jede Verletzung und sogar der Wuchsort – am Rand des Waldes, mittendrin, freistehend – werde gespeichert.
Nicht von ungefähr bezeichnet der Titel die Skulpturen aus dem Tucherschloss als „Lebensstationen“. Tiefe Kerben machen die markanten Köpfe zu Sinnbildern von Erfahrung und Vergänglichkeit. Wie vergänglich, zeigt sich Minuten nach der ersten Augenscheinnahme: Nacheinander legt Andreas Kuhnlein die jeweils 45 Kilo schweren, hüfthohen Köpfe seitwärts auf Kanthölzer. Er setzt den Gehörschutz auf und startet die Kettensäge. Vrroom.
Saubere Schnitte am Sockel
Von unten kürzt er die Sockel der Köpfe um etwa 20 Zentimeter. Nur so lässt sich feststellen, ob das Holz gelitten hat. Ein Blick genügt: Drei Skulpturen sind okay, urteilt der Bildhauer. Nur bei der vierten ist ein morsches Stück herausgebrochen. „Die Figuren waren in einem besseren Zustand als gedacht“, sagt Kuhnlein, „Eiche, richtig installiert, überlebt uns.“ Um seinen Werken ein langes Leben zu sichern, sucht er anschließend zusammen mit Museumsleiterin Ulrike Berninger einen besseren Standort für die vier Köpfe.
Die sollen künftig unter der Balustrade zwischen Schloss und Nebengebäude positioniert werden, wieder im Freien, aber auf Pflaster und vor Wind und Regen weitgehend geschützt. Kuhnlein rät zudem, die Köpfe auf Gestelle zu montieren – mit Abstand zum Boden. Sie könnten zudem imprägniert werden, am besten mit natürlichem Leinöl.

Museumsleiterin Ulrike Berninger und Andreas Kuhnlein nehmen den möglichen neuen Standort für die Skulpturen in Augenschein. Foto: Brigitte List
Die unverbrauchte Schönheit des Narziss
Eine weitere Skulptur Kuhnleins hat den Aufenthalt im Freien besser vertragen. Am Wasserbecken des Gartens sitzt der „Narziss“ auf einem Betonblock und schaut, getreu seinem Vorbild aus der griechischen Mythologie, selbstverliebt ins eigene Spiegelbild. Der Narziss ist in bester Verfassung – obwohl die Skulptur aus Eschenholz gefertigt ist, das nicht so witterungsbeständig wie Eiche ist. Er soll jedoch besser befestigt werden, denn er ist ein beliebtes Fotomotiv.
Für Andreas Kuhnlein, der inzwischen 72 Jahre alt ist, ist das künstlerische Schaffen das beste Lebenselixier. Von Ende Oktober bis April konzentriert er sich im heimischen Unterwössen ganz auf die Bildhauerei, die auch körperlich stark fordert. Im Sommerhalbjahr widmet er sich dem Ausstellungsbetrieb, baut auf und ab, macht Besuche und organisiert schon das kommende Jahr. Andere sind längt in Rente. Aber ein Leben ohne Kunst und ohne seine Kettensäge kann sich Andreas Kuhnlein nicht vorstellen: „Das wäre eine Katastrophe, undenkbar!“ Dabei ist ihm der Gedanke an das Älterwerden keineswegs fremd. Schon ein paar Sätze später scherzt er: „Wenn ich mich im Spiegel anschaue, werde ich den Zerklüfteten immer ähnlicher.“ Quasi eine perfekte Einheit von Kunst und Künstler.
Weitere Informationen zu Andreas Kuhnlein
Hinweise für Besucher:
Die Skulptur „Narziss“ wird voraussichtlich Anfang November ins Winterlager gebracht. Die Skulpturengruppe „Vier Köpfe“ werden wir hoffentlich zu Ostern 2026 wieder öffentlich präsentieren können.
Alle anderen Kunstwerke im Renaissancegarten des Tucherschlosses sind ständig zu sehen.
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