Museenblog Nürnberg

Neueste Beiträge

Kategorien

22 / 5 / 2024

Auf der Suche nach der wahren Geschichte

Der Historiker Jeremy Best forscht über Kriegsspiele und ihre Wirkung

Es ist ja nicht so, dass Aufregerthemen erst heutzutage „viral“ gehen. 1995, da steckte Social Media noch in den Kinderschuhen, erschütterte eine bis 1999 tourende Wanderausstellung die Bundesrepublik. „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ öffnete erstmals einer breiten Öffentlichkeit die Augen, für die bislang nur SA, SS und Gestapo die übelsten Handlanger des nationalsozialistischen Terrorregimes gewesen waren. Nun schilderten Fotos, Textdokumente und Zeitzeugenberichte die Beteiligung der Wehrmacht am Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion und am Holocaust und lösten politische Beben in den Ausstellungsorten bis hinein in den Bundestag aus. Eine aufgrund fachlich-sachlicher Kritik überarbeitete Neufassung der Schau mit dem Titel „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944“, die von 2001 bis 2004 gezeigt wurde, bekräftigte allen Leugnungen zum Trotz: Die Legende von der „sauberen Wehrmacht“, die allein militärische Ziele verfolgte, ist vom Tisch. Oder doch nicht?

Jeremy Best, Historiker an der Iowa State University, forscht zum Thema Toy Soldiering im Deutschen Spielearchiv.

Jeremy Best sitzt an einem Tisch, auf dem sich Brettspiele stapeln. Sie tragen Namen wie „Turning Point: The Battle of Stalingrad“, „Panzerkrieg“ oder „Der Deutsche U-Bootkrieg 1939-1943“. Der Professor für Geschichte an der Iowa State University ist für einige Wochen Gast des Deutschen Spielearchivs im Haus des Spiels am Egidienplatz. Hier kann er eintauchen in die deutsche Spielkultur, findet Spiele, die er andernorts lange suchen müsste. Sein aktuelles Forschungsprojekt mit dem Arbeitstitel „Toy Soldiering: West German Rearmament, the Holocaust, and the United States“ führt ihn bereits zum zweiten Mal nach Nürnberg.

Das hiesige Quellenmaterial steht in einem verblüffenden Zusammenhang mit dem Umgang der Vereinigten Staaten mit ihrer eigenen Vergangenheit. „Es gibt eine offizielle Geschichtsschreibung der USA, die geprägt ist von der einen, eigenen Sichtweise. Im Zweiten Weltkrieg wurde erstmals auf die Kenntnisse des gegnerischen Generalstabs zugegriffen“, erklärt der Historiker. „Diese Kriegsgefangenen waren hoch gebildet, viele waren adelig – das machte Eindruck auf die Amerikaner.“ Die Erfahrungen der deutschen Militärelite im Kampf gegen die Russen erhielten im beginnenden Kalten Krieg zunehmend Gewicht – die Erzählungen von der „sauberen Wehrmacht“ wurden gehört und nicht groß hinterfragt. Den USA war daran gelegen, möglichst rasch ein freies, demokratisches Westdeutschland mitaufzubauen, „und wie sollte das gehen, wenn das Führungspersonal aus Kriminellen mit NS-Vergangenheit bestand“. So war man bei der Entnazifizierung kompromissbereit.

Rise and Decline of the Third Reich (The Avalon Hill Game Company, 1981).

Auch dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer war die Souveränität des zunächst entmilitarisierten westdeutschen Staats wichtig, zu der die Möglichkeit einer Verteidigung durch eigene Streitkräfte gehören sollte. Etwas versteckt unter dem öffentlichen Radar liegend, aber mit Zustimmung der Westmächte, begann 1950 eine nach ihrem Leiter „Amt Blank“ benannte Dienststelle im Stillen mit Planungen für den Aufbau einer in die NATO eingebundenen Bundeswehr und der 1955 erfolgten Einrichtung eines Bundesministeriums für Verteidigung. Um die deutsche Bevölkerung angesichts einer „kommunistischen Bedrohung“ aus dem Osten für die Wiederbewaffnung zu erwärmen, war die „Sauberwaschung“ der Wehrmacht Mittel zum Zweck.

Escape from Colditz (H.P. Gibson & Sons Ltd., 1973).

Parallel zum Wiederaufbau Deutschlands lief auch das Wiederaufleben der Spieleindustrie. Hatten im Ersten Weltkrieg deutsche Brettspiele wie „Wir fahren gegen Engeland“ lediglich „einen kriegerischen Geschmack“, wie es Best ausdrückt, bildeten sie in den frühen 1940er Jahren zunehmend realistische Situationen ab, etwa die Verteidigung im Luftkrieg. Nach 1945 war den Deutschen die Lust an Kriegsspielen gründlich vergangen. Doch die Wiederaufrüstung des Landes spiegelte sich dann in der Spielebranche wider.

Nations at War: White Star Rising (Spielworxx, 2010).

Ab Mitte der 1950er und vor allem in den 1960er und 1970er boomten von den USA ausgehend sogenannte CoSim-Spiele, die Konflikte simulierten. Vom abstrakten Abbild kriegerischer Auseinandersetzungen entwickelten sich die Spiele hin zur realistischen Nachahmung historischer Schlachten von Austerlitz bis Stalingrad. Für die Verlage geriet die Illustration der Spiele über den Zweiten Weltkrieg zum Balanceakt: Einerseits verlangen die Nutzer ein authentisches Brettspiel mit NS-Symbolik, andererseits ist deren Verwendung in Deutschland verboten. So sind in einer deutschen Ausgabe Einheiten der Waffen-SS durch schwarze Spielplättchen gekennzeichnet, während man in der Fassung für den US-Markt kleine SS-Runen auf den Täfelchen entdecken kann. Die meisten CoSims erzählen die offizielle US-amerikanische Kriegsgeschichte, die 1944 bis 1946 zusammen mit ehemaligen Wehrmachtsangehörigen geschrieben wurde.

Blitzkrieg (The Avalon Hill Game Company, 1965).

An seiner Uni in den USA ist Jeremy Best gerade dabei, zusammen mit Kollegen das Fach Game Design einzurichten. „In den 1990er Jahren waren Film und Fernsehen die Quellen, aus denen unsere Studierenden sich ihre Vorstellung von der Welt machten. Heute sind das die Computerspiele. Die nehmen eine sehr große Rolle in ihrer Gedankenwelt ein.“ Der Haken dabei: „Diese Computerspiele greifen zurück auf die historischen Darstellungen der CoSims. Der Holocaust wird dort nirgends thematisiert, transportiert wird der Mythos der sauberen Wehrmacht.“ Als Pädagoge weiß der Hochschulprofessor, wie prägend die beim Spielen gemachten Erfahrungen für seine Studentinnen und Studenten sind. „Ich bin auch Gamer und verstehe den Spaß an den Spielen, die sind oft sehr gut gemacht. Aber als Historiker sage ich: Man muss die Hintergründe kennen. Es gibt richtige Geschichte, und es gibt falsche Geschichte – und wir müssen die richtige finden!“

Wenn Sie einen Blick auf die Wirkungsstätte von Jeremy Best werfen wollen, so können Sie das Gelände der Iowa State University durch einen Klick auf den Plan virtuell besuchen.

 

Die Sammlung Mensenkamp, die derzeit Thema einer Ausstellung des Deutschen Spielearchivs im Spielzeugmuseum ist, bietet für Forschende einen Fundus an historischen Spielen, an der sich gesellschaftlich relevante Themen vergangener Zeiten studieren lassen.
Schätze in Schachteln. Die Spielesammlung Mensenkamp


 

Museenblog abonnieren und keinen Artikel mehr verpassen!
Loading
Schreibe einen Kommentar
Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit einem * markiert.

*

*