Wohl kaum ein anderer Stadtteil Nürnbergs hat im vergangenen Jahrhundert so viel mediale Aufmerksamkeit im englischen Sprachraum erfahren wie Langwasser, das erst ab den 1960er Jahren seine heutige städtebauliche Form erhielt: Auf die Berichte über die nationalsozialistischen Reichsparteitage folgten nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges Zeitungsartikel über das auf einem Teil des Reichsparteitagsgeländes eingerichtete Kriegsgefangenenlager – zunächst Erlebnisberichte von erfolgreich geflüchteten Gefangenen, nach der Befreiung des Lagers im April 1945 dann Listen mit Namen befreiter Soldaten.
Das Kriegsgefangenenlager wurde kurze Zeit nach Kriegsende von den US-Streitkräften in ein Internierungslager für vormalige SS-Angehörige, NS-Größen und Wehrmachtsgeneräle umgewandelt, darunter Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk und die Generalfeldmarschälle Erich von Manstein und Walther von Brauchitsch. Besonders der NS-Propagandist Hans Fritzsche und der ehemalige Reichskanzler Franz von Papen, die während der Nürnberger Prozesse hier untergebracht waren, waren gefragte Interviewpartner englischsprachiger Journalisten. Mit der Verbringung der letzten Gefangenen in eine Haftanstalt in Eichstätt wurde das Internierungslager Langwasser im März 1949 aufgelöst.
Zwischenzeitlich war ab 1946 in direkter Nachbarschaft das Valka-Lager für Displaced Persons (d.h. Geflüchtete, Vertriebene und Verschleppte) entstanden, das unter verschiedenen offiziellen Bezeichnungen und Formen bis 1960 Bestand hatte.
Ein erster ausführlicher Bericht über das Valka-Lager erschien im Mai 1948 in der US-amerikanischen Saturday Evening Post, der ein nahezu idyllisches und wohl weitgehend unbekanntes Bild des Lagers zeichnet: Die Straßen im Lager sind sauber und werden von Blumenbeeten gesäumt, ein Brunnen spendet kühles Wasser, Kinder spielen nach dem Schulunterricht, der ihnen von „Lehrern mit Hochschulabschlüssen“ erteilt wird, im Grünen. Bestickte Gardinen und Blumen zieren die Fenster der Gebäude – neben Wohnbaracken gibt es etwa eine Krankenstation, eine Bibliothek, eine Schusterei, eine Schmiede, ein Gewächshaus „und eine Art Rathaus“.
Die wichtigsten Orte sind für viele Lagerbewohner die liebevoll eingerichteten Barackenkirchen, zu deren Ausstattung geschnitzte Altäre, Gemälde und feine Paramente zählen. Die Wohnräume in den Holzbaracken sind zwar klein, aber dennoch „ansprechend“ und verfügen über Öfen, Kochutensilien und einladende Betten mit handbestickten Kissen. Dennoch ist aber klar, dass dieses Lager mit seinem Baubestand und seiner Infrastruktur aus der NS-Zeit nur ein vorrübergehender Wohnort sein kann und die Bewohner so bald wie möglich Deutschland in Richtung der Vereinigten Staaten verlassen sollten.
Dass es sich bei dieser Beschreibung um keine übermäßige Verklärung handelt, zeigen auch die Farbfotografien des US-amerikanischen Pfarrers Ross Hidy, der sich 1948 anlässlich von Dreharbeiten des Films „Answer for Anne“ im Valka-Lager aufhielt. Dieser 40-minütige, im Auftrag einer evangelisch-lutherischen Organisation produzierte und teilweise im Valka-Lager entstandene Film sollte die US-amerikanische Öffentlichkeit von der Aufnahme aus Osteuropa geflüchteter Menschen überzeugen. Zahlreiche Zeitungsartikel, die die Vorführung des Films ankündigten und dessen Inhalt erläuterten, machten das Valka-Lager schließlich in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus bekannt.
Ab 1950 folgten dann regelmäßig Berichte über verschiedene Aspekte des Valka-Lagers (z.B. Alltagsleben im Lager, Flucht ins Lager, Ankunft von ehemaligen Valka-Bewohnern in ihrer neuen Heimat, Besuche von kirchlichen Institutionen und Hilfsorganisationen sowie nachrichtendienstliche Aktivitäten im Lager). Diese waren meist von einem negativen Grundton geprägt, der jedoch einen gänzlich anderen Hintergrund hatte als die Berichte der Nürnberger Lokalpresse, die kaum eine Gelegenheit ungenutzt ließ, um das Lager und dessen Bewohner mit Verbrechen, Gewalt und moralischem Verfall in Verbindung zu bringen.
Eine Untersuchung von mehr als 250 Zeitungsartikeln aus den USA, Australien, dem Vereinigten Königreich, Kanada, Neuseeland und anderen Ländern der anglophonen Welt bietet einen bisher unbekannten Blick auf das Valka-Lager: Was erfuhr und dachte man im Ausland über das Lager? Worin ist der Ursprung des konfliktären Verhältnisses zwischen Lagerbewohnern und deutscher Bevölkerung zu suchen? Was geschah mit den Geflüchteten und Vertriebenen, für die Nürnberg nur eine Zwischenstation war? Wie sah eigentlich eine Weihnachtsfeier in einem Flüchtlingslager aus, in dem mehr als 3000 Menschen aus über 30 Nationen lebten? Wie konnten Nachrichtendienste Misstrauen und Ängste im Valka-Lager verbreiten und einen Propagandakrieg führen, den ein namhafter Journalist gar als „Schlacht um Valka“ titulierte?
Ein auf neuen Forschungsergebnissen basierender Vortrag bemüht sich um die Beantwortung dieser und anderer Fragen zum Valka-Lager. Neben Artikeln aus historischen Zeitungen und Zeitschriften werden bisher unberücksichtigte Quellen, darunter Fotografien, Gerichtsakten, Protokolle des US-Kongresses und nachrichtendienstliche Aufzeichnungen, präsentiert.
Der Vortrag findet am Mittwoch, den 26.04.2023 im Gemeinschaftshaus Langwasser statt. Im Rahmen der Kooperationsveranstaltung des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände und des Gemeinschaftshauses Langwasser wird anschließend der 1948 teilweise im Valka-Lager produzierte Film „Answer for Anne“ gezeigt. Der Film ist mit Untertitelung in deutscher Sprache versehen und wird von Anmerkungen des Übersetzers abgerundet.
Weitere Informationen zur Veranstaltung
Benjamin Högner ist staatlich geprüfter Übersetzer und hat Translationswissenschaft in Erlangen und München studiert. Im Rahmen einer Abschlussarbeit beschäftigte er sich mit interkultureller Interaktion im Valka-Lager.
In zwei weiteren Blogbeiträgen erinnern sich jeweils zwei Schwesterspaare an das Leben rund um das Valka-Lager
„Was wir damals erlebt haben, glaubt uns heute keiner mehr!“
Weihnachten im Valka-Lager!