“Rußland 1942 … Wo ich bin … wo bin ich … möchtet ihr von mir wissen … wo ich bin Ende Januar … Ihr glaubt gar nicht … wo ich bin … Ende Januar … zu Hause … das kann ich jetzt leider noch nicht schreiben … wo ich bin … bin zu Hause … eines Hauses ohne Licht … bin Ende Januar zu Hause in Tilsit, Tilsit, Tilsit … bin im Keller … mit der Schreibmachine … schreibe … ohne Licht … Wir haben nichts zu essen … Pferdefleisch … Misthaufen … Knochen … Ihr glaubt gar nicht wie lecker das war … wo ich bin … Liebe Eltern, liebe Geschwister … wo ich bin … Wir sind umzingelt … Rundherum** … Kanonendonner … Schießen … es ist sehr kalt … sind umzingelt und haben Angst … und Schießen, Schießen, Schießen …”
Ralf Yusuf Gawlick spricht in der Komposition „Herzliche Grüße, Bruno“ auch Fetzen aus den Briefen seines Onkels Bruno, der als 19jähriger in Stalingrad verschollen blieb.
Rund 80 Jahre nach der Schlacht von Stalingrad erklingt die Komposition „Herzliche Grüße, Bruno“ in Nürnberg zu einem Zeitpunkt, der sehr nachdenklich macht. Die deutsche Erstaufführung – ursprünglich vor zwei Jahren geplant – findet im Großen Musiksaal der Nürnberger Symphoniker am 5. April 2022 statt. Erschreckend aktuell wirkt das Werk vor dem Hintergrund, dass wieder ein Krieg in Europa stattfindet und Menschen derzeit in der Ukraine ihr Leben lassen. Prof. Dr. Magnus Brechtken, stellvertretender Leiter des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, wird eine historische Einordnung des Werkes geben.
Das Werk des in Deutschland geborenen Komponisten Ralf Yusuf Gawlick ist dem Andenken an seinen Onkel Bruno Gawlick gewidmet, der mit 19 Jahren in Stalingrad vermisst gemeldet wurde. Brunos Familie stammte aus Rautenberg, in der Nähe von Tilsit, in Ostpreußen. Die Familienfotos zeigen ihn mit seinen Eltern und mit seinen sechs Geschwistern sowie der Großmutter. 1942 wurde er im Alter von 18 Jahren zur Wehrmacht eingezogen, im August des gleichen Jahres wurde er 19. Kurz darauf, im Herbst, wurde er nach Stalingrad geschickt und seit Dezember 1942 vermisst gemeldet. Bruno ist nur einer von hunderttausenden Soldaten der Roten Armee und der Wehrmacht, die im Winter 1942/43 in der Schlacht von Stalingrad sterben.
Die Komposition von Ralf Gawlick, heute Musikprofessor am Boston College, basiert auf Brunos letzten Briefen, die dieser von der Front an seine Familie sandte. Er kombiniert diese Texte mit einer Klangcollage zeitgenössischer Tonaufnahmen wie Radiodokumenten, Reden der NS-Führung und einer von dem berühmten Wilhelm Furtwängler dirigierten Aufnahme des Adagios der 7. Sinfonie von Anton Bruckner aus dem Jahr 1942.
Ralf Gawlick, Adoptivkind roma-kurdischer Abstammung, wuchs mit der Erinnerung seines Adoptivvaters an den kaum gekannten und doch geliebten älteren Bruder auf. Seine Komposition konfrontiert NS-Propaganda-Reden und berühmt gewordene historische Musikaufnahmen mit der Hoffnungslosigkeit der brutalen Realität des Krieges für die Soldaten im Schützengraben in einer einzigartigen eindringlichen Klangcollage.
Heute erinnert an den Tod des jungen Bruno ein eingravierter Name unter vielen in Granitwürfeln in Rossoschka nahe des damaligen Kriegsschauplatzes.
Das Konzert im Musiksaal der Symphoniker gestalten die international renommierte Pianistin Chi-Chen Wu und der europaweit gefragte Konzert- und Opernsänger Georg Gädker. Die Uraufführung fand 2019 in den USA in Boston statt, auch dort spielte Chi-Chen Wu die Flügelpartie.
Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine erhält die deutsche Erstaufführung der elektroakustischen Komposition „Herzliche Grüße, Bruno“, die sich dem sinnlosen Tod eines jungen Soldaten in Stalingrad widmet, traurige Aktualität.
Weitere Informationen und Kartenvorbestellung für das Konzert am 5. April 2022
Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände
Ein erster Eindruck der Komposition auf YouTube
Zur Geschichte der Familie Gawlick gibt es auch ein Video auf YouTube
Die Gawlicks – Eine Familiengeschichte – Erzählt von Hilde Kehn (geb. Gawlick)
Die deutsche Erstaufführung von „Herzliche Grüße, Bruno – Briefe aus Stalingrad“ fand am 5. April 2022 als Veranstaltung des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgeländes im Musiksaal der Nürnberger Symphoniker in der Kongresshalle statt. Einen Eindruck von dem gelungenen Konzert gewinnen Sie unter folgendem Link. Ein herzliches Dankeschön an alle Beteiligten und insbesondere den Künstlern Ralf Yusuf Gawlick, Chi-Chen Wu und Georg Gädker.
lettersfromstalingrad.com
Dr. Astrid Betz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände und im Memorium Nürnberger Prozesse. Sie plante die Veranstaltung bereits im April 2020 und hätte damals nicht gedacht, dass nun zeitgleich zur deutschen Erstaufführung wieder Krieg geführt wird, wenige Hunderte Kilometer von uns entfernt.
Bildnachweis: Soweit nicht anders angegeben, stammen alle Fotos aus dem Besitz der Familie Gawlick.