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29 / 10 / 2021

Vom Ankommen:

Migration nach Nürnberg als Museumsthema

Es gibt viele Gründe, den Ort zu verlassen, an dem man aufgewachsen ist. Häufiger Antrieb zu einem Ortswechsel ist die Nachfrage nach der eigenen Arbeitskraft an einem anderen Ort. Martina Bauernfeind listete in ihrer Publikation aus dem Jahr 2011 „Zuwanderung nach Nürnberg im 19. Jahrhundert“ viele prominente Nürnberger auf, die von auswärts ihren Weg in die fränkische Metropole gefunden haben, angezogen von dem Versprechen nach wirtschaftlichem Erfolg.¹

Mit William Wilson soll hier nur eine unter diesen vielen markanten Personen herausgegriffen werden. Der Engländer kam 1835 nach Nürnberg, zusammen mit dem Adler, der Lokomotive der ersten Deutschen Eisenbahn. Als deren Dampfwagenführer sollte er einen geeigneten Nachfolger ausbilden. Dazu kam es aber nicht, und der beliebte Lokführer führte seine Tätigkeit aus, bis er 1859 gesundheitsbedingt den Führerstand verlassen musste. 1862 starb Wilson und wurde in Nürnberg auf dem St. Johannisfriedhof beigesetzt.² Dieses Beispiel zeigt: Selbst eines der ikonischsten Relikte industrieller Kultur in Nürnberg ist mit der Thematik Migration verbunden.

Will man demnach die Geschichte der modernen Lebens- und Arbeitswelt in Nürnberg erzählen, muss dabei das Thema Migration eine Rolle spielen. Nicht nur viele der Gründerväter und Führungsfiguren Ur-Nürnberger-Unternehmen waren eingewandert – der stetige Arbeitskräftemangel industriell geprägter Metropolen zieht bis heute Menschen aus aller Welt an. Ein Beispiel hierfür ist die Migration türkischer Arbeitskräfte im Zuge des Anwerbeabkommens.

Aus dem Wunsch nach Arbeit wird eine Zukunft in Nürnberg

Vor 60 Jahren, am 30.10.1961, wurde zwischen der türkischen und der deutschen Regierung das Anwerbeabkommen vereinbart, dessen Jubiläum nun gefeiert wird. Die im Zuge dieses Abkommens geschaffenen Strukturen boten vielen Menschen aus der Türkei die Möglichkeit, in Deutschland Arbeit zu finden. Bis 1973 kamen über das Anwerbeabkommen 867.000 Arbeitskräfte aus der Türkei nach Deutschland. Davon kehrten 500.000 Personen nach ihrem Arbeitsaufenthalt wieder in die Türkei zurück.³

Möchte man konkrete Zahlen für Nürnberg zur Arbeitsmigration im Zuge des Anwerbeabkommen zusammenstellen, erscheint dies jedoch schwieriger. Die Anwerbung von Arbeitskräften erfolgte nicht für jede Produktionsstätte einzeln, sondern der Bedarf wurde zentral über die Unternehmensleitungen angemeldet und dann auf die Standorte verteilt. Die Fabriken in Nürnberg gehörten schon in den 1960er-Jahren zu den global agierenden Unternehmen, mit Produktionsstandorten in ganz Deutschland, wie zum Beispiel Siemens, AEG, MAN oder Grundig. Wie viele Personen nun konkret nach Nürnberg kamen, lässt sich daher nur noch schwer ermitteln.⁴

Waschmaschinenproduktion auf AEG in den 1960er Jahren. Der wirtschaftliche Aufschwung machte das Anwerben von ausländischen Arbeitskräften notwendig. Bildnachweis: Electrolux Hausgeräte GmbH

Leichter hingegen fällt es aufzuzeigen, wie viele Menschen heute in Nürnberg ihre Wurzeln in einer Migrationsgeschichte haben. Hierzu liegen aktuelle Daten aus den statistischen Erhebungen der Stadt Nürnberg vor. Von 532.331 Personen mit Hauptwohnsitz in Nürnberg, haben im Jahr 2020 252.623 Personen einen Migrationshintergrund und bei 31.089 Menschen verknüpft sich dieser mit der Türkei.⁵ Das bedeutet: Fast die Hälfte aller in Nürnberg lebenden Menschen gehören zu Familien mit Migrationserfahrung. Somit ist Zuwanderung für Nürnberg ein relevantes Thema.

Doch was bedeutet Zuwanderung? Recherchiert man in den Beständen des Museums Industriekultur zum Anwerbeabkommen, findet man ein Objekt, das davon eindrücklich Auskunft gibt: eine zunächst sehr unscheinbar wirkende Decke. Das Betttuch mit der Inventarnummer 13.469 wurde dem Museum Industriekultur bei der Sammelaktion „Da Sein“ übergeben, die zusammen mit dem Stadtarchiv 2009 durchgeführt wurde. Die türkische Familie S. überließ damals dem Museum eine Decke, die sie, von der Mutter geschenkt, 1971 mit nach Nürnberg gebracht hatten. Dort hatte Herr S. ein Jahr zuvor bei Siemens als Dreher zu arbeiten begonnen. Die Decke war in der ersten gemeinsamen Wohnung in Deutschland, ein Einzimmer-Apartment, als Vorhang verwendet worden, bevor die Familie in eine von Siemens gestellte Wohnung umzog.

2009 fand in der Fertigungshalle des ehemaligen AEG-Werks die Sammlungsaktion DA SEIN in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv statt. Das Museum Industriekultur übernahm bei dieser Aktion mehrere Objekte in die Museumssammlung. Bildnachweis: Museum Industriekultur

Solche Geschichten wecken die Empathie des Betrachters und werfen Fragen auf: Mit welchen Gefühlen wurde dieses Tuch eingepackt? Unsicherheit über die bevorstehende Reise, frei nach dem Motto: Eine Decke braucht man immer? Vielleicht hatte die Mutter von Herrn S. gehört, dass es in Deutschland kalt sei und wollte, dass es das junge Ehepaar warm hat? Vielleicht brachte diese Decke – auch wenn sie in ihrer eigentlichen Funktion dann nicht notwendig gewesen war – ein Stück Herzenswärme aus der Heimat mit nach Deutschland? Auf jeden Fall erinnerte dieses Objekt die Familie S. an die Türkei, die sie für eine bessere Zukunft in Deutschland verlassen hatten. Neben Vielem besitzt Migration auch immer ganz unterschiedliche emotionale Komponenten, die sowohl Hoffnung, aber auch Ungewissheit umfassen.

Migration als Museumsthema

Doch wie kann man als Museum mit Migration umgehen? Die Schwierigkeit der musealen Darstellung des Themas ergibt sich im Detail: Museumsethisch ist es notwendig, das Thema auszustellen, dabei aber keine reißerisch plakative Form zu wählen, denn dies hätte einen Prozess zur Folge, der mit dem Begriff Othering beschrieben wird. Othering bedeutet, dass man durch die Überbetonung einer Andersartigkeit eine bestimmte Gruppe, meist Minderheiten, zunächst stigmatisiert. Über diese Stigmatisierung erfolgt dann oft erst recht Ausgrenzung. Gerade die museale Geschichte ist voll von solchen Ansätzen zum Beispiel in ethnologischen Museen.

Im Gegensatz zu ethnologischen Sammlungen sind Objekte aus Migrationskontexten in städtischen Sammlungen häufig alltägliche Gegenstände, wie die Decke der Familie S. Erst durch die Geschichte dahinter bekommen die Objekte einen Migrationskontext. Dieses Betttuch nun als typisch migrantisch auszustellen, wäre nicht zutreffend und ein Othering. Die kuratorische Aufgabe könnte hierbei sein, nicht Fremdartigkeit zu inszenieren, sondern die Objekte so auszustellen, dass damit Emotionen zum Ausdruck kommen. So zum Beispiel das Gefühl, in die Fremde aufzubrechen, oder der Wunsch, eine neue Heimat finden zu wollen. Dadurch würde etwas gefunden werden, was vermutlich alle Menschen mit Migrationshintergrund verbindet: die emotionale Komponente der Migration.

Das Bettlaken aus groben Leinenstoff. Entgegengenommen bei der Aktion DA SEIN, wird auf die 1920er Jahre datiert. Bildnachweis: Museum Industriekultur

Hierbei kann ein Gegenstand wie das Betttuch der Familie S. eine Rolle spielen oder aber ein gänzlich anderes Objekt. Wichtig ist, den kuratorischen Auswahl- und Darstellungsprozess ethisch verantwortungsvoll zu gestalten, um neue Sichtweisen aufzuwerfen und falschen Schlussfolgerungen vorzubeugen – aus Respekt vor der Leistung aller Menschen aus vergangener Zeit, deren kulturelles Erbe im Museum bewahrt und gezeigt wird.

Denn zwei Gründe machen es notwendig, diese Geschichten im Museum Industriekultur zu erzählen. Zum einen zeugen schon allein die Vielzahl an historischen Beispielbiographien von der Unumgänglichkeit des Themas. Ohne den Zuzug vieler ganz unterschiedlicher Menschen hätte Nürnberg nicht die wirtschaftliche Strahlkraft entwickeln können, die die Stadt bis heute besitzt. Zum anderen macht es die oben beschriebene Relevanz des Themas für die gesamte Nürnberger Bevölkerung zu einem wichtigen Diskursfeld für die Stadtgesellschaft und damit zu einer der Kernaufgaben des Museums Industriekultur.

 

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Quellen:

¹ Martina Bauernfeind: Zuwanderung nach Nürnberg im 19. Jahrhundert, in: Michael Diefenbacher, Steven M. Zahlaus (H.G): Dageblieben! Zuwanderung nach Nürnberg gestern und heute, Nürnberg 2011, S.41-58.

² Wolfgang Mück: Deutschlands erste Eisenbahn mit Dampfkraft. Die kgl. priv. Ludwigseisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth, Fürth 1985, S. 156–157.

³ https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184981/gastarbeit, abgerufen: 19.10.2021, 16:12 Uhr

⁴ Jürgen Markwirth: Wir haben Arbeiter gerufen, aber es kamen Menschen, in: Michael Diefenbacher, Steven M. Zahlaus (H.G): Dageblieben! Zuwanderung nach Nürnberg gestern und heute, Nürnberg 2011, S. 87f.

⁵ Stadt Nürnberg (H.G): Datenblätter zum Migrationshintergrund der Bevölkerung, Bezirke/Migrationshintergrund 2020, Stadt Insgesamt, Datenstand: 08.10.2021, (https://www.nuernberg.de/imperia/md/statistik/dokumente/migrationshintergrund/nbg/2020/mgh_2020_00.pdf, abgerufen: 25.10.2021, 13:41)

Ein Kommentar zu “Vom Ankommen:

  • Annafrid Staudacher
    1 / 11 / 2021 | 10:53

    Sehr geehrter Herr Schütz, wertes Museumsteam,
    Sie haben mir mit dem Artikel und der Info zum Engagement dahinter eine große Freude bereitet. Ich habe selbst einen sog. Migrationshintergrund und kenne diesen Teil meiner Geschichte aus einigen Erzählungen. Dass dazu wissenschaftlich gesammelt und auch seriös bereitet wird, finde ich sehr wichtig. Für mich persönlich, aber auch für uns als Gesellschaft. Es kann uns helfen dieses neue Wir zu formen, zu fühlen und zu denken, das wir so dringend brauchen. Damit Othering und Rassismus keine Chance haben. Damit wir in unserer Vielfalt einen Schatz erkennen und gemeinsam gestalten. Jede und jeder unser Miteinander für uns und unsere Kinder. Danke auch für das Gefühl gesehen zu werden. Nicht nur den Druck der Assimilation zu spüren, sondern Sein zu dürfen, ist manchmal ein Kraftakt. Die beschriebenen Bemühungen geben Raum, lassen sein – ohne Wertung, ohne Leistungsdruck. Vielleicht erwächst daraus sogar Empathie und Verständnis, gar Verständigung…
    Besten Dank und Gruß
    Staudacher

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