Altlasten & Neuanfang
Der 500. Geburtstag Albrecht Dürers wurde von den Verantwortlichen als Chance begriffen, 26 Jahre nach Ende des NS-Regimes, während dem Nürnberg Stadt der Reichsparteitage und der Rassengesetze gewesen war, das Image der Kommune neu zu definieren: traditionsbewusst, dennoch modern und weltoffen. Das Programm sollte mit verschiedensten Veranstaltungsformen gleichermaßen Fachpublikum und Laien, Einheimische wie Gäste ansprechen. Diese hochgesteckten Ziele führten zu Erfolgen, Flops und Kontroversen. Schon die Verwendung der in der Überschrift zitierten Begriffe aus einer bundesweiten Werbekampagne vom Vorjahr, die Dürer den ersten Hippie und seine Eva von 1507 ganz schön sexy! nannte, verursachte in konservativen Kreisen einen Sturm im Wasserglas.
Bisher wurde dieses Großereignis nicht umfassend gewürdigt. Dabei ergibt allein der Blick in die damalige Tagespresse, ergänzt um die Informationen im offiziellen Abschlussbericht (Martin Brons: Dürer-Jahr 1971 Nürnberg. Nürnberg 1971), ein facettenreiches Bild des Zeitgeists vor 50 Jahren.
Brennpunkt GNM
Im Mittelpunkt des Geschehens stand das Germanische Nationalmuseum. Es richtete nicht nur die Hauptausstellung mit 732 Exponaten, darunter 385 Arbeiten Dürers, aus aller Welt aus, die in nur knapp zweieinhalb Monaten 352.400 Menschen besuchten, sondern stellte auch seine Räume anderen zur Verfügung und ging Kooperationen ein. Mit 307.000 Teilnehmenden war das gemeinsam mit dem Bayerischen Rundfunk und der Stadt realisierte Dürer-Studio, das sein Werk niederschwellig der breiten Bevölkerung nahebringen sollte, ein echter Renner.
Dürerhaus, NORICAMA & Biennale
Zum historischen Anlass wurde das Wohnhaus des Meisters am Tiergärtnertorplatz renoviert und um einen Anbau ergänzt, den Gegner wegen seiner schroffen Fassade Kunst-Trafo nannten. Dennoch strömten 143.651 Menschen in den Fachwerkbau und bestaunten dort die von der Wiener Kunstakademie ausgeliehene Locke seines berühmten Vorbesitzers.
Rückläufig war hingegen die Besucherstatistik des ebenfalls neu hergerichteten Stadtmuseums im Fembo-Haus. Die städtische Multimedia-Schau NORICAMA in der unweit gelegenen Kaiserstallung genoss einen höheren Aufmerksamkeitswert: Im Verlauf des Jubeljahres wurde dort 143.377 Zuschauenden eine technisch aufwendige Bild-Text-Ton-Collage auf der Höhe der Zeit geboten (kecker Werbeslogan: Mit NORICAMA lernen Sie Nürnberg besser kennen als mancher Nürnberger in seinem ganzen Leben).
Die Biennale in der Kunsthalle und im Künstlerhaus, dem späteren KOMM, sollte zeigen, dass in Nürnberg auch moderne Kunst eine Heimat hat. Dabei nahm das Konzept, außer durch das titelgebende Zitat Was die Schönheit sei, das weiß ich nicht, wenig Bezug auf das Geburtstagskind. Im Vordergrund standen Schöpfungen der klassischen Moderne und damals angesagter Künstler wie Warhol, Lichtenstein und Beuys. Trotz Kritik in den Feuilletons fand die dreimonatige Schau mit 61.385 Besuchern und Besucherinnen Anklang.
Fürs Volk: Spielzeugmuseum, Trempelmarkt & Alt-Nürnberg
Entsprechend ihrem Kulturverständnis wollten der zuständige Referent Hermann Glaser und sein Team ins Dürer-Jahr auch Kreise miteinbeziehen, die nicht kunstaffin waren. Außerdem war man seitens der Verwaltung und der Wirtschaft durchaus darauf bedacht, neue Tourismus-Attraktionen in der nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs wiederaufgebauten Stadt zu schaffen. Also wurden zum Beispiel in der Altstadt Plakattafeln mit bekannten Dürer-Motiven aufgestellt sowie ein Wissens- und ein Zeichenwettbewerb für Amateure veranstaltet.
Als Volltreffer erwiesen sich das im Februar eröffnete Spielzeugmuseum in der Karlstraße 13 mit 76.469 Gästen, der erste Trempelmarkt im Juli (32.000 Interessierte) und das im Waffenhof am Königstor errichtete Kulissendorf Alt-Nürnberg (später Handwerkerhof), wo sich noch heute vor allem Auswärtige mit Bratwürsten, Lebkuchen und Kunsthandwerk eindecken können.
Privatinitiativen & Kontroversen
Als nachhaltiges Erbe erwiesen sich die schon seinerzeit nicht unumstrittenen Freiplastiken des internationalen, privat organisierten und finanzierten Symposium Urbanum, die auch fünf Jahrzehnte später an verschiedenen Plätzen im Stadtgebiet bewundert oder kritisch hinterfragt werden können.
Aus dem Stipendium Mit Dürer unterwegs eines solventen Sponsors entstand ein Eklat, als Toni Burghart, einer der geförderten Künstler, nicht ausschreibungsgemäß Europa bereiste und dabei malte, sondern mittlerweile ikonische Grafiken wie Nürnberg sauer (Burgsilhouette mit Zitrone und Davidstern) oder Nürnbergs Größter (der Sinwellturm als Penis) einreichte. Schon zuvor hatte ihm seine Persiflage von Dürers Selbstportrait im Pelzrock als Pop Art Cockerspaniel Drohbriefe eingebracht.
Die Konflikte zeigen, dass es bei aller propagierter Offenheit eine politische und ästhetische Schmerzgrenze gab: Eine explizite Auseinandersetzung mit der lokalen NS-Geschichte fand nicht statt, das Bild Dürers und das der Stadt waren kanonisiert und ließen nicht einmal ironische Abwandlungen zu, ohne auf heftigen Widerstand zu stoßen.
Ein Filmportrait des vielseitigen Künstlers Toni Burghart aus dem Jahr 2002
Ich hase Dich. Der Maler und Poet Toni Burghart
Fazit
Dass 1971 die Außenwahrnehmung Nürnbergs entscheidend verändert hat, muss bezweifelt werden, dazu war die Last der braunen Vergangenheit noch zu schwer. Kurz darauf begann der wirtschaftliche Niedergang mit dem Ende der fertigenden Industrie, aber auch die mühevolle Aufarbeitung der Nazizeit. Vor Ort brachten Baumaßnahmen, zeitgenössische Skulpturen im öffentlichen Raum, neue museumsdidaktische Konzepte und breite gesellschaftliche Diskurse über Kunst Impulse, die weiterwirken. Angesichts dessen klingt der Titel von Günter Grass’ damals in der Meistersingerhalle nach Motiven der Melancolia I gehaltenen Rede wie ein Resümee: Vom Stillstand im Fortschritt.
Führungen
Die Autorin führt ab dem 21. Mai, abhängig von den geltenden Regelungen, an mehreren Terminen zu Schauplätzen des Dürer-Jahres 1971 in der Altstadt.
Weitere Informationen zur Führung
Die Politologin Susanne Rieger vermittelt in Publikationen, Vorträgen und auf ihren transiturs Stadttouren Zeitgeschichte in Nürnberg und München.