In den Abendstunden sahen ihn die begeisterten Nürnberger besonders gut: den Leuchtturm. Seine Strahlen erhellten das ruhige Wasser des Dutzendteiches, und nur wenig weiter. Doch immerhin. An dessen Spitze war ja bloß ein „Scheinwerfer“. Also kein blinkendes, echtes Seezeichen. Doch ungeachtet, ein Leuchtfeuer auf 49°25´47´´ Nord, 11°06´56´´ Ost? Siebenhundert Kilometer von der Nordseeküste entfernt? Und sogar stolz eingetragen ins „Lexikon der deutschen Leuchttürme“, 2002?
Ja, den gab´s! Meeresfeeling in Mittelfranken. Wasser unter sich, Wellen. Na ja, Wellchen. Wer auf den schmalen Aussichtsbalkon in 20 Meter Höhe steigen wollte, musste dafür zahlen. Ein Weltwunder war er zwar nicht, aber ein Hingucker! Der schöne Anlass – dieser viele frühe Schwarz-Weiß-Fotos wert, außerdem 105 offiziell herausgegebene Postkarten (davon sieben mit dem Leuchtturm als Motiv) −, dieser Anlass war die pompöse III. Bayerische Jubiläums-Landesausstellung im Luitpoldhain, an den Dutzendteich und seine vier „Nummernteiche“ grenzend. Man schrieb das hundertste Jahr der Nürnberger Zugehörigkeit zu Bayern – 1906.
Familien auf den Grünflächen des Dutzendteichparks, Segler und Ruderer (manchmal sogar Flößer) auf dem künstlichen Freizeitsee ergötzten sich an den großzügigen Volksgartenanlagen. Während der Ausstellung auch an den zahlreichen jugendstil-ähnlichen Bauten, die – auf dem bis dato ungenutzten Gelände − nur für diese dritte Landes-, Industrie-, Gewerbe – und Kunst-Ausstellung errichtet worden waren. 2,5 Millionen Besucher zählte die Massenveranstaltung von Mai bis Oktober; ihr Areal: rund 700.000 Quadratmeter. Flaneure, Radfahrer, spielende Kinder genossen zwischen Fontänen, Musikpavillon und auf Spazierwegen unter Eichen die angrenzende Wasserfläche wie heute.
1906 als weißer Turm mit drei roten Farbbändern versehen (es gibt auch Bilder mit vier roten und drei weißen), außerdem mit einer blauweißen Flagge on top, ragte die skurrile Binnenland-Errungenschaft auffallend in die Höhe! Sie war tagsüber mit dem Fahrstuhl zu erklimmen. Dieser außergewöhnliche Franken-Leuchtturm – so viel darf behauptet werden – war bis heute der südlichste nördlich des Bodensees (Lindau). Der älteste Binnenleuchtturm hierzulande ist er jedoch nicht, das ist der barocke Leuchtturm am Bärensdorfer Großteich bei der Moritzburg nahe Dresden von 1780.
Was für eine Werbung für die Ausstellung
Die Nürnberger hatten also auch einen. Ihm schlossen sich das damalige „Teich-Restauration“ an, und ab 1912 der Tiergarten. Wer dort saß, hatte einen schönen Blick aufs Wasser. Es war also jemand auf die Idee gekommen, diesen runden Leuchtturm zur Bewerbung der aufwändigen, wenngleich nur sechs Monate währenden Leistungsschau (2604 Aussteller) zu installieren. An ihrer südöstlichen Ecke – heute wäre das am Nordwestufer des Großen Sees, südlich des Serenadenhofes.
Die Stadt hat in einem Vermerk vom 3. November 1906 zur „Übernahme des Leuchtturmes der Ausstellung und der zu ihm führenden Brücke durch die Stadtgemeinde“ die jeweiligen Baukosten ermittelt. Nach der Aufstellung der Firma Houzer vom 27. September 1906 betrugen die Kosten 20.199,68 Mark (Mk) für den Leuchtturm, nach der der Karlsruher Firma Meess & Nees vom Oktober desselben Jahres 9.943,36 Mk für die Brücke, und nach Berechnung der Ausstellung 3.355,56 Mk für die Nebenkosten (z.B. Blitzableiter, Geländer, Fahnen). Die Gesamtkosten betrugen also 33.098,60 Mk.
Abgesehen von diesen Investitionen, war das ein nachhaltiger PR-Schachzug! Laut Bauakte des Nürnberger Stadtarchives ist bekannt, dass der Turmbau zu Nürnberg von der Ausstellungs-Geschäftsstelle am 14. Januar 1905 beim Stadtmagistrat beantragt, am 10. Februar genehmigt, am 1. Oktober 1905 begonnen und am 22. Juni 1906 abgeschlossen worden war. Seine Gebäudehöhe betrug 27,1 Meter von der Turmfußbodenoberkante bis zur Turmspitze bzw. Kugel.
An der Basis hatte der Turm 17,58 Meter Umfang und einen Durchmesser von 5,60 Meter (laut Querschnittszeichnung No. 203 vom 16. Juni 1905). Fernsichtspunkte während der Ausstellung gab es mehrere: zwei (allerdings nicht zu besteigende) Ecktürme am Haupt-Industriegebäude, eine große hölzerne Wasserrutsche sowie Aussichts- und Wassertürme neben der Hauptrestauration im Luitpoldhain. Der Leuchtturm war quasi eine weitere Möglichkeit, auf Franken hererabzublicken. Er hatte drei weiße und drei rote horizontale Bänder.
Der Aufzug war eine wichtige Komponente
Als ihren Beitrag zur Ausstellung hat die Firma Josef Houzer KG, Spezialgeschäft für Schornsteinbau und Feuerungsanlagen aus der Nürnberger Findelwiesenstraße 9, den Pharus errichtet. Ihr gehörte der Turm bis zum Verkauf an die Stadt. In der Ausstellung wurde er der Kategorie der Industriebauten zugerechnet. Houzer ließ (für 2.000 Mk Leihgebühr für die Ausstellungsdauer) sogar einen Fahrstuhl der Firma Wüst & Cie aus Seebach bei Zürich einbauen. Für die Auf- und Abfahrt mussten 30 Pfennig (Kinder unter 10 Jahren 15 Pfennig) bezahlt werden. Nach einem Schreiben der Geschäftsstelle der Ausstellung vom 10. Januar 1906 an den Stadtmagistrat betrugen die Gebühreneinnahmen für die Benutzung des Aufzugs 6725,85 Mk. Umgerechnet bedeutet dies, dass mehr als 22.000 Personen während der Ausstellung auf der Plattform waren.
Die Fahrzeit des Aufzugs war auf 10 bis 13 Uhr vormittags und 14.30 bis 19.30 Uhr abends beschränkt. Im Stadtarchiv können Bauakten unter StAN C20/V Nr.9824 (enthält die Baupläne von Houzer und dem Baubureau der Landesausstellung) sowie C20/V Nr.748 (Aktenstücke) eingesehen werden. Von den Bauplänen wussten zunächst nicht einmal die Mitarbeiter des Stadtarchivs. In den Beständen des Stadtarchivs lagern darüber hinaus gut behütet Fotos, weitere Bauakten, Postkarten, Bilder. Interessante Unterlagen sind zusätzlich im Germanischen Nationalmuseum und in der Stadtbibliothek zu finden.
Laterne oder Scheinwerfer?
In der Laterne – die übliche Bezeichnung für das Turmbauteil, in dem sich die Lichtquelle befindet − war eine Sonderanfertigung eines Scheinwerfers der Firma Siemens-Schuckert-Werke Nürnberg eingebaut. Der Scheinwerfer, 75 Ampere und 51 Volt, hatte in seinem Gehäuse eine Bogenlampe vor einem (Parabolspiegel-) Reflektor auf einem Drehtisch. Die Intensität des vom Spiegel ausgehenden Lichtstrahles betrug nach dem „Offiziellen Bericht“ des Literarischen Bureaus der Landesausstellung ca. 42 Millionen Normalkerzen. Der Scheinwerfer war an vier Tagen in der Woche (mittwochs und am Wochenende) in Betrieb und wurde von 21.30 Uhr bis 22.30 Uhr, später schon von 20.30 bis 21 Uhr abends eingeschaltet.
An anderer Stelle wird berichtet, dass „…nachts von seiner Höhe aus ein Scheinwerfer mit seinen wie ins Endlose hinausschießenden Strahlen die Dunkelheit nach allen Richtungen durchdrang.“ Und wie der „Fränkische Kurier“ noch am 31. Oktober 1935 schwärmte, strahlte die runde Kuppel während der Ausstellung abends „nach allen Richtungen“.
Der Leuchtturm war im morastigen Seegrund auf 72 Holzpfählen fundamentiert. Diese hatten einen Durchmesser von 0,25 m, waren versetzt in Kreisen angeordnet, mit Rundeisen von 10 mm Durchmesser verbunden, und wurden 2,25 bis 3 Meter tief in den Boden gerammt. Dieser Pharus also stand auf seinem eigenen Beton-Inselchen in der Höhe des Fischbachausflusses – so konnten ihn Ruderer oder Schlittschuhläufer umrunden. Nach einer Berechnung von Houzer war der Turm 315.310 Kilo schwer.
Eine 20 Meter lange und 3,40 Meter breite, maximal 2 Meter über dem Wasser gewölbte, zuweilen bunt beflaggte weiße Eisenbetonbrücke – gebaut von der heute nicht mehr existierenden „Meess & Nees-Aktiengesellschaft für Beton- und Eisenbetonbauten im Hoch- und Tiefbau“ −, verband ihn mit dem Uferweg. Während der Landesausstellung und einige Jahre danach hingen in Höhe des unteren weißen Bandes am Turm vier Bogenlampen, die den umrundbaren Sockel ausleuchteten. Auf dem schwarzen Holzgeländer standen zudem 16 schwarze Laternenpfosten mit kleineren Laternen und zwei größeren am Eingang zur Brücke.
Den Nazis ein Turm im Auge
Am 30. Dezember 1907 wurde der stolze Turm „zur weiteren Nutzung“ von seiner Besitzerfirma Houzer an die Stadt Nürnberg verkauft. Die Stadt zahlte für den Leuchtturm und die Brücke 2.000 Mk. Er war ein Touristenmagnet, ein Unikum nicht nur an Wochenenden.
Allerdings – nach rund drei Jahrzehnten wollte die Stadtverwaltung ein Ende: Bereits 1925 hatte das langsam marode Wahrzeichen abgerissen werden sollen. Doch erst, als die Nationalsozialisten begannen, die monumentale Kongresshalle zu bauen und das Reichsparteitagsgelände zu erweitern, standen ihnen die Badeanstalt am Nordwestufer, die Baumalleen, der Tiergarten und eben der Turm endgültig im Weg. Hitler selbst hatte die Nürnberger am 21. Juli 1933 vor das Ultimatum gestellt, entweder für die „nächsten 100 Jahre den Reichsparteitag mit einigen hunderttausend Teilnehmern“ in der Stadt haben zu wollen, oder eine Anzahl alter Bäume im Luitpoldhain zu erhalten.
Was geschah? „Im Zuge von Bodenverdichtungs-“, sprich: enormen Fundamentierungsarbeiten des sumpfigen Erdreichs sprengte die 1. Kompanie des „Pionierbataillons 45 Neu-Ulm“ den beliebten Turm am 29. Oktober 1935. Im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, Raum 7 „Baugeschichte des Reichsparteitagsgeländes“, ist diese Sprengung in einem Kurzfilm zu sehen. Daniela Harbeck-Barthel verwies in ihrem „Sonntagsblitz“-Artikel (2005) auf die einstigen ideologischen Anstrengungen, den Städtern die Maßnahme schön zu reden: „…und darum wollen wir den 30-jährigen Altersschwachen vom Dutzendteich gerne vermissen“, zitierte die Redakteurin ihrerseits die „Fränkische Tageszeitung“.
Wo der Scheinwerfer verblieben ist, weiß auch der 81-jährige, gebürtige Nürnberger Alfred Bock nicht. Er ist international renommierter U-Boot- und Leuchtturm-Spezialist sowie Redakteur der „Navicula“-Zeitschrift für maritime Postgeschichte. „Der Nürnberger Turm war natürlich etwas Außergewöhnliches“, bestätigt er, „auf Briefmarken ist er allerdings gar nicht zu finden.“ Es gab und gibt, je nach Definition, in Binnendeutschland nur ein gutes Dutzend Leuchttürme bzw. -denkmäler, und insgesamt etwa 23 Leuchtzeichen allgemein. Längst nicht alle sind Schifffahrts- oder Seezeichen. Auch der Nürnberger nicht.
Ein inspirierender Anblick
Jedenfalls, der bis dahin zusammenhängende Dutzendteich wurde durch der Nationalsozialisten „Große Straße“ in zwei Teile geteilt, teils trocken gelegt; auch der „Silbersee“ entstand. Der Leuchtturm, dessen maritimer Ruf das meeresferne Mittelfranken in faszinierten Kreisen der internationalen Fans bekannt gemacht hatte, war da längst verschwunden; seine Trümmer und sein Glas verstreut, irgendwo.
Könnte er nunmehr seinem Wiederaufbau harren, nimmt sich möglicherweise jemand seiner an? Ein zu gründender Förderverein, für 2026 vielleicht – 120 Jahre nach seinen ersten abendlichen Strahlen? Gegen allerlei, heute skurril anmutende Argumente des „Bayerischen Heimat- und Königsbundes“ wollten schon 1965 die „Nürnberger Nachrichten“ und die 1890 gegründete Nürnberger Marinekameradschaft „Treue“ (heute der Seemanns-Chor) ihren Bürgermeister Andreas Urschlechter inspirieren, einen Nachfolgebau zu errichten: als Wahrzeichen für alle Seefahrer. Und „ein Museum für Modellschiffe sollte genauso darin Platz finden wie eine Funkstation für den Vereinsnachwuchs“, hat Harbeck-Barthel herausgefunden; sogar als Ausguck für Rettungsschwimmer oder Polizei hätte der Backsteinturm dienen können. Doch vergebens. Den Franken waren solche „norddeutschen Anleihen“, all das Maritime und sowieso Preußische fremd.
2008 äußerten sich – laut „Nürnberger Stadtanzeiger“ − Architekt Günter Reichert, Stadtarchivar Helmut Beer und Künstler Patrick Preller dazu, den Turm als durchsichtige 30-Meter-Replik wiederzubeleben. Zumindest als Vision. Und dass solch ein Kulturdenkmal auch zu jugendlicher Reiselust inspirieren kann, weiß Alfred Bock, wenn er schlussendlich auf ein zuerst 1942 im Herder-, später 1948 im Sebaldus-Verlag erschienenes Buch hinweist: Geo Broeg beschrieb einst seinen Lebensweg „Vom Dutzendteich zum Stillen Ozean“. Auf dem Umschlag und auf Bildern im Innern, wen wundert´s: ein Ruderer, unterhalb eines sonderbaren Leuchtturmes auf einem sonderbaren Teich, von dem auf der anderen Seite des Globus‘ noch nie jemand gehört hatte.
Jochen Pipke (lebte 50 Jahre in der Hansestadt Lübeck und jetzt seit 27 Jahren in Nürnberg) beschäftigt sich hobbymäßig seit 15 Jahren mit dem Nürnberger Leuchtturm sowie mit der „Landessausstellung 1906“. Ihm sind die meisten in diesem Text genannten, mühsam recherchierten technischen Bauakten-Kenntnisse zu verdanken; außerdem die Fotos. Autor Thomas Lappe und er lernten sich völlig zufällig bei den Archiv-Recherchen zum selben Thema im Stadtarchiv kennen.
Paula Gottmann
13 / 5 / 2019 | 12:33
Ach Markus bau halt widder ann Leuchdurm…..
ich bin eine „Ex-kinderlandverschickte Hamburger Deern“ –
die nach vielem Hin-und-Her in Bayern geblieben ist – hab einen Bayern geheiratet
und 3 wunderbare Bayern in die Welt gesetzt – ich liebe Nürnberg und Hamburg
gleichermaßen – schade dass Ihr den Leuchtturm einen Tag vor meinem Geburtstag – 30. 10. 1935 – in die Luft gesprengt habt….. ich glaub viele Nürnberger wären begeistert
Vorstoffel andrea
28 / 8 / 2019 | 11:22
Bin erst 1974 geboren.von einem leuchtturm habe ich erst aus den medien erfahren.ja es ist sehr schade das er abgeriessen wurde.und schade auch das keiner mehr errichtet wurde.ein leuchtturm am dutzenteich wäre bestimmt in der heutigen zeit ein highlight.
Rudolf Houzer
30 / 10 / 2022 | 18:03
Sehr schön, daß jemand die Geschichte so gut recherchiert niedergeschrieben hat. In unserer Familie wußte man schon ungefähr etwas davon. Der Turm wurde immerhin von meinem Urgroßvater erstellt. Leider sind auch fast alle von ihm gebauten Kamine in Deutschland und England nicht mehr existent. Wir überprüfen gerade, wo noch welche im Denkmalschutz überlebt haben. Kamin- und Ofenbaufirmen meiner Vorfahren gab es einige, und bis jetzt noch eine in München.