Zimperlich sind die Schüler nicht, die 1968 aufbegehren. Gegen die autoritäre Gesellschaft sind sie, gegen eine verkrustete Sexualmoral, gegen Denkverbote. Wie ihr Protest aussah und was er bewirkt hat steht im Mittelpunkt der Ausstellung „Klassen-Kämpfe“, die noch bis 28. Oktober im Museum Industriekultur zu sehen ist.
„Ich hatte gedacht, das ist eine Betonwand, auf die die Schüler stießen. Aber sie stoßen damals auf Verständnis bei Eltern, bei Lehrern und sogar bei Schulleitern“, sagt Mathias Rösch, der für die Ausstellung drei Jahre lang recherchiert hat und mit 35 teils prominenten Zeitzeugen über die Jahre 1968 bis 1972 sprach. Darunter Innenminister Joachim Herrmann, der ehemalige Landesbischof Johannes Friedrich und der Grünen-Politiker Klaus-Peter Murawski, der Bürgermeister in Nürnberg und zuletzt als Staatsminister Chef der Staatskanzlei in Baden-Württemberg war.
Rauswurf wegen Marx-Zitat
Murawski engagierte sich schon als Schüler. Beispiel Behaim-Gymnasium: Ein Schüler zitiert im Schulaufsatz Karl Marx. Das bringt ihm eine 6 ein, der junge Mann soll von der Schule fliegen. Sein Vater, ein Metzger, marschiert zum Direktor und wehrt sich. Auch Schüler protestieren und verteilen Flugblätter, später steht Klaus-Peter Murawski für eine solche Aktion sogar vor Gericht. Der umstrittene Aufsatz wird schließlich dem Ministerialbeauftragten vorgelegt, der mehrere Gutachten einholt und dann – gegen alle Erwartung – die Schule rüffelt: Sie müsse aushalten, dass es eine andere Meinung gibt.
Der Fall ist aktenkundig, viele andere Proteste griffen Zeitungen und Magazine mit großen Schlagzeilen auf. Den persönlichen Aspekt, der so wichtig ist für die Ausstellung, bringen Tagebücher und Zeitzeugen ein. „Anfangs waren die zumeist skeptisch“, berichtet Mathias Rösch. Wird doch gegenwärtig die Verantwortung der 68-er für Missstände in der deutschen Gesellschaft diskutiert. „Aber nach einer Dreiviertelstunde waren wir tief im Thema drin, auch alte Verwundungen sind aufgebrochen: Die Zeitzeugen erinnerten sich sehr lebendig an die Schläge und die Demütigungen ihrer Schulzeit.“
Veränderungsbereites Milieu
Dass Lehrer prügelten, dass Schüler wegen ihrer langen Haare oder ihrer Kleidung drangsaliert oder verspottet wurden – das waren keine Einzelfälle. Dass die Jugendlichen mit ihrem Aufbegehren gegen Autoritäten und spießbürgerliche Normierung Erfolg hatten, lag auch an der Gesellschaft. „Die Schüler trafen auf ein veränderungsbereites Milieu“, sagt Mathias Rösch. Sie waren 1968 ja auch nicht die ersten: Schon Ende der 1950er Jahre hatte die Jugend Elvis und James Dean als starke Vorbilder für ein anderes Leben angehimmelt. 1966 hatten Schüler in Bremen eine Straßenbahn besetzt und waren von der Polizei zusammengeschlagen worden. 1967 hatte die 19-jährige Karin Storch in Frankfurt am Main eine aufsehenerregende Abiturrede über „Ungehorsam als Aufgabe einer demokratischen Schule“ gehalten.
Neugier wecken, Diskussionen entfachen
Es brodelte also schon unter der Oberfläche, bevor es 1968 und in den Folgejahren zur Eruption kam. „Einige Schüler waren so provokant, dass Lehrer vor Gericht gingen“, berichtet Mathias Rösch. Das ist gesellschaftlich und historisch äußerst spannend, aber als Ausstellung im Museum? Natürlich lässt sich alles in Dokumenten nachlesen, Fotos von damals bannen den brennenden Eifer und das Ungestüm der Schüler und sogar einige Tonbandmitschnitte hat Ausstellungsmacher Rösch aufgetan. Aber wie will er Schüler (und Erwachsene) heute dafür begeistern?
Mathias Rösch setzt auf ein Konzept, das sich schon in der Ausstellung „Schule im Nationalsozialismus“ vor zwei Jahren bewährt hat: Lerninseln. Zu jedem der 16 Themen gibt es eine Sitzecke mit Tisch, auf dem verschiedene Objekte ausliegen. Ergänzt wird mit Tablet und Hörstationen, an den Wänden spiegeln Artikel aus Zeitschriften wie Pardon, Spiegel und Bravo die Chronologie und den Geist der Zeit, einige Schwerpunkte wie beispielsweise Rollenbilder von Mann und Frau werden gesondert erläutert.
„Wichtig ist, dass die Schüler nichts müssen“, sagt Mathias Rösch. Sie sollen hingehen können, wo sie wollen, und tun, was ihnen behagt. Sogar auf dem Handy rumspielen. Und wenn schon, sagt Mathias Rösch. Er hat beobachtet, dass die flüchtige Aufmerksamkeit der Jugendlichen sich irgendwann auch dem Thema zuwendet. „Wo immer das möglich ist, setzen wir auf radikale, auch absurde Brüche.“ Denn an ihnen entzündet sich echtes Interesse und hoffentlich auch die Diskussion über die Schülerproteste, über das politische Klima und den gesellschaftlichen Wandel 1968, über die berechtigten Forderungen der Schüler und ihre oft ungehobelte Form.
Rebellisch wie damals
Jeweils zwei Klassen können die Ausstellung „Klassen-Kämpfe“ und das Lernlabor in Nürnberg besuchen. Aber sind die heutigen Schüler nicht viel zu brav? Sicherlich würden die heutigen Schüler manchmal müde rumhängen, sagt Mathias Rösch: „Aber auch bei den 1968ern waren es wenige, die aufbegehrt haben.“ Das Potenzial dafür sei auch heute vorhanden. Wenn die äußeren Umstände den Jugendlichen signalisierten „du kannst, du darfst, es ist an der Zeit – dann ist der rebellische Geist sofort wieder da.“