„Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte“, soll Wladimir Lenin die ordnungsliebenden deutschen Sozialdemokraten verspottet haben. Ob der Führer der russischen Bolschewisten dabei an Nürnberg dachte? In der fränkischen Metropole verlief der politische Umsturz 1918 jedenfalls nicht nur friedlich, sondern geradezu einvernehmlich.
„Kriegssozialismus“
Wie in allen Großstädten des Deutschen Reiches litt auch in Nürnberg die Bevölkerung unter den Folgen des „Großen Krieges“. Lebensmittel wie Brot, Kartoffeln, Milch oder Fleisch waren ebenso rationiert wie Heizmaterial und nur gegen Marken erhältlich. Um die Ärmsten zu versorgen, hatte die Stadt Volksküchen eingerichtet. Die Arbeitszeiten in den Fabriken, die für die Kriegswirtschaft produzierten, wurden immer länger. Frauen ersetzten dabei die zum Kriegsdienst eingezogenen Männer.
Seit Kriegsbeginn lag die vollziehende Gewalt formal beim Militär, doch der für Nürnberg verantwortliche Befehlshaber des Stellvertretenden General-Kommandos des III. Bayerischen Armeekorps überließ die Organisation der „Heimatfront“ der Verwaltung unter Oberbürgermeister Dr. Otto Geßler. Seine Verordnungen und Vorschriften reglementierten das öffentliche Leben immer stärker. Noch dreißig Jahre später erinnerte Geßler stolz daran, dass die Bevölkerung den „Kriegssozialismus“ klaglos akzeptierte. In der Arbeiterstadt Nürnberg hielt der gesellschaftliche „Burgfrieden“ von 1914 bis in das letzte Kriegsjahr. „Von einer echten Revolutionsstimmung war im roten Nürnberg nichts zu verspüren“, so Geßler.
Massenstreiks
Erst Ende Januar 1918 kam es erstmals zu größeren Unruhen. Die Revolution in Russland und die Aussicht auf einen „Frieden ohne Annexionen und Kontributionen“ lösten Massenstreiks in ganz Deutschland aus. In Nürnberg begann der Ausstand am 28. Januar bei den Werken der Gebr. Bing, die statt Spielwaren nunmehr Patronengurte, Stahlhelme und Stielhandgranaten produzierten. Noch am gleichen Tag kam es zu Arbeitsniederlegungen in fast allen Großbetrieben. So streikten im Industrieviertel Gostenhof die Arbeiter der Triumph- und Hercules-Werke. Allein in der Nürnberger Schraubenfabrik in der Fürther Straße 101 beteiligten sich mehr als 1 200 Mitarbeiter an den Protesten. Zu ihnen aufgerufenen hatten Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD), die sich 1917 von der SPD abgespalten hatte. Auch die Mehrheitssozialdemokraten unterstützten den Streikaufruf, dem mehr als 42 000 Menschen folgten, mehrheitlich Frauen.
In Flugblättern forderten die Protestierenden eine Reform der Bayerischen Verfassung, umgehende Friedensverhandlung und die Freilassung aller politischen Gefangenen. Die Kundgebungen am Egidienplatz verliefen friedlich. Nur wenige Demonstranten wurden von der Polizei verhaftet, nach Rücksprache mit den Militärbehörden jedoch rasch wieder freigelassen. Während in der Reichshauptstadt Berlin das Militär den Ausnahmezustand verhängte und gewaltsam gegen die Streikenden vorging, war in Nürnberg der Ausstand nach zwei Tagen beendet. Nicht nur der Oberbürgermeister Geßler rief die Arbeiter zur Disziplin und Rückkehr in die Fabriken auf, auch beide sozialdemokratischen Parteien verzichten ausdrücklich auf weitere Proteste.
Zusammenbruch der alten Ordnung
Rückblickend erscheinen die Januarstreiks im gesamten Reich als „Generalprobe für die Novemberrevolution“ (Arthur Rosenberg). Und so verlief dann auch die Revolution in Nürnberg geordnet. Die Nachricht von der Ausrufung der Republik in München am 8. November überraschte Verwaltung, Parteien und Gewerkschaften gleichermaßen.
In der Stadt kam es zu spontanen Massenaufläufen. Demonstranten besetzten den Bahnhof, die Post, das Telegrafenamt und weitere öffentliche Gebäude. Die schwarz-weiß-roten Reichskokarden an den Soldatenmützen verschwanden und wurden durch rote Fähnchen ersetzt. Widerstandlos ließen sich die Offiziere ihre Achselstücke abreißen. Am Abend wählten Vertreter beider sozialistischen Parteien bei einer Versammlung im Sächsischen Hof in der Neutorstraße die Kommissare für den neu konstituierten Arbeiter- und Soldatenrat. Umgehend übernahmen sie die Militärdienststellen in der Stadt.
In ihrem ersten Aufruf, der noch in der Nacht des 9. Novembers verkündet wurde, forderten der SPD-Landtagsabgeordnete Ernst Schneppenhorst und der Leutnant der Reserve Dr. Hermann Ewinger als verantwortliche Kommissare für das General-Kommando des III. Bayerischen Armeekorps „strengste Disziplin, Ordnung und Zusammenhalt“ von den Soldaten und Zivilisten. Die Offiziere wurden gebeten, auf ihrem Posten zu verbleiben. Das Rathaus blieb zunächst unbehelligt. Auch in den folgenden Monaten kooperierten Arbeiter- und Soldatenräte und Stadtverwaltung weitgehend konfliktfrei.
Heimkehr der Soldaten
Zu ihren größten Herausforderungen gehörte neben der Versorgung der Bevölkerung die Demobilisierung. Am 10. Dezember 1918 kehrten die ersten 600 Soldaten an ihren Heimatstandort Nürnberg zurück. Mehrere Tausende Menschen empfingen das erste Bataillon des 14. Infanterie-Regiments der Königlich Bayerischen Armee am festlich geschmückten Hauptbahnhof. Oberbürgermeister Geßler, Vertreter des Arbeiter- und Soldatenrates sowie weitere Honoratioren hielten Ansprachen und gedachten der Toten. Unter Glockengeläut zogen die Soldaten in ihre Kaserne.
Anders als in Berlin oder München blieb der Winter 1918/19 in Nürnberg friedlich. Die Revolutionäre radikalisierten sich nicht. Eine ebenso einfache wie plausible Erklärung dafür hatte der Münchner Gymnasiallehrer Josef Hofmiller: „Der Grund ist, weil in Nürnberg keine Boheme, kein Schwabing ist.“
Unter dem Titel „Auf den Spuren von Krieg und Revolution“ bietet das Memorium Nürnberger Prozesse am Montag, den 14. Mai und am Sonntag, den 15. Juli einen historischen Stadtrundgang durch Gostenhof an.
Weitere Informationen zum Stadtrundgang