Petticoat, Röhrenhosen und Schmalztolle erlebten schon in den 1970er Jahren ein Comeback in der Londoner Subkultur. Mittlerweile werden die Artefakte der 1950er Jahre im Kunsthandel teuer gehandelt. Was als Symbol deutscher Nachkriegsspießigkeit gilt, ist wieder chic. „Es war einmal“ raunen in Möbelhäusern Cocktailsessel mit den etwas vulgär gespreizten Beinen, Nierentischchen und Tütenlampen. Wenn die Zukunft nur noch als dunkle Wolke bedrohlich am Horizont aufzieht, richtet man sich lieber in einer licht verklärten Rückschau ein. Damals gab es endlich wieder etwas zu lachen. Unbeschwerte Sonntagsausflüge, Vater voran mit der Agfa-Box. Sonne lacht, Blende acht. Daheim zwei Zimmer, Küche, Bad, Kohlenöfen. Frau findet Erfüllung am Herd. Rosemarie Nitribitt findet den Tod in der feinen Herrengesellschaft. Kein Familienfest ohne Dosenananas. Die Familienbibel heißt jetzt Quellekatalog. Der füllige Genießer Ludwig Erhard als personifiziertes Glücksversprechen. Wir sind schon wieder wer: Konsumweltmeister, Fußballweltmeister, Verdrängungsweltmeister. Der Denunziant der Geschwister Scholl wird rehabilitiert. Generalabsolution durch das Märchen Stunde Null. Auch für Architekten.
Obwohl das Baugewerbe blüht, können Architekten, die nach 1933 emigrieren mussten, nicht wieder Fuß fassen. Selbst junge Absolventen haben wenig Chancen. Die schon unter den Nazis bauten, kennen Planungsgrundlagen und haben so Wettbewerbsvorteile. Etwa Wilhelm Schlegtendal. Von Speer geschätzt, war er mit der Großplanung für die Führerstadt Nürnberg betraut. Am Plärrer sollte ein Hochhaus ein Ausrufezeichen vor der Altstadt setzen. Nach dem Krieg gibt es keine Skrupel, ihm den Wiederaufbau der Stadt anzuvertrauen. Ab 1951 entsteht das Hochhaus, stilistisch entnazifiziert sozusagen, mit modisch elegantem Flugdach. Die betonte Modernität will der Architekt wohl auch als demonstrativen Bruch mit der eigenen Vergangenheit verstanden wissen. Beim 1948 gebauten Eckhaus Kaiserstraße 38 schwelgte er noch im traditionellen Heimatstil.
Der Konflikt zwischen diesen Haltungen bestimmt bis heute die Diskussion, geht es um die zentrale Frage nach Neubau oder Rekonstruktion, mithin um das Verhältnis von Innovation und Tradition. Die Lager stehen sich schon in den fünfziger Jahren unversöhnlich gegenüber, weil sie die Debatte moralisch befeuern. Die Modernisten sehen einzig in Stahl und Glas Demokratie verwirklicht, die Traditionalisten beschwören das moralisch integere Deutschland vor dem großen Betriebsunfall. Man beschimpft sich als reaktionär oder technokratisch.
Alle ignorieren geflissentlich, dass es in der Architekturgeschichte des Jahrhunderts mehr Kontinuitäten als Brüche gibt. Heimatstil, Bauhausmoderne und Klassizismus laufen selbst nach 1933 nebeneinander. Und Elemente, die für die Fünfziger angeblich so typisch sind, haben Vorbilder: Tankstellen, wie jene in der Erlenstegenstraße, mit den rasanten, oft papierdünnen Dächern basieren auf Entwürfen von Carl August Bembé aus dem Jahr 1936. Ebenfalls in den dreißiger Jahren baute Hans Scharoun schon mit amorphen Formen und geschwungenen Dächern. Bruno Paul, von dem die Innenausstattung der Wartehalle des Nürnberger Hauptbahnhofs stammte, entwarf übrigens gleichzeitig gefällig gerundete Möbel. Die gespreizten Möbelbeine waren längst ein konstruktives Detail ländlicher Sitzmöbel.
Traditionalismus und Klassizismus kann man deshalb so wenig auf eine politische Haltung festnageln wie den Funktionalismus. Aber seine Vertreter tun nach dem Krieg so, als hätte vor 1933 diese Haltung allein das Bauen beherrscht. Dabei begann die Revolte gegen den „Zigarrenkistenstil“ schon Anfang der dreißiger Jahre und wird in den fünfziger Jahren massiv. Selbst Le Corbusier, der Gott der Moderne, ein glühender Verehrer von Hitler und Stalin, hinterfragt eigene Positionen in der Wallfahrtskirche von Ronchamp.
Es ist in den 1950ern auch ein Generationenkonflikt: Die Älteren haben sich mit dem Thema Bauhaus längst auseinandergesetzt, ehe es die Jungen entdecken. Ihr Pilgerziel heißt Ulm: Im rechten Winkel zwischen Kunst und asketischem Kitsch predigt die Hochschule für Gestaltung ihre Mission, noch in Küchenhockern und Untertassen die geschmacklich und moralisch bessere BRD zu repräsentieren. Auch der große Kirchenbaumeister Rudolf Schwarz schätzt Sachlich-Konstruktives, fürchtet aber den Verlust eines Bauens als Kunst und die Herrschaft banaler Technik. Walter Gropius hatte er schon 1931 vorgeworfen, Wohnform mit Weltanschauung gleichzusetzen, „worunter er in Wirklichkeit Wirtschaftsanschauung“ verstehe.
Das 1945 beinahe komplett zerstörte Nürnberg wird in einer ungeheuren Leistung während der fünfziger Jahre wieder aufgebaut. Schier unübersehbar ist deshalb die Zahl der zeitgenössischen Gebäude, mal angelehnt an einen Heimatstil, mal im modernen Gewand, mal schnell hochgezogener Zweckbau. Von gestalterisch Banalem bis zu Glanzstücken der Nachkriegsarchitektur. Sep Ruf wäre heute der Stararchitekt. Erst die Bayerische Staatsbank (1949-51, Bankgasse): traditioneller Sandstein, durchfensterte Fassade, klassische Noblesse. Dann das Ensemble der Kunstakademie (1952-54, Bingstraße): minimalistisch leichte Pavillons, transparente Wände, hauchdünne Dächer, eine demokratische Künstlerkolonie. Oder der Wiederaufbau des Germanischen Nationalmuseums (1955-77, Kornmarkt): Gebäude wie Schauvitrinen und fließende Raumfolgen. Friedrich Seegy setzt den gewohnten schulischen Dressurburgen das freundlich einladende Sigena-Gymnasium (Gibitzenhofstraße) entgegen. In der grandiosen Aula eine Showtreppe wie für Caterina Valente.
Auch ein Blick auf die vielen Alltagsbauten lohnt. Da relativiert sich das polarisierte Bild vom Bauen in den 1950er Jahren: Im Mittelmaß durchdringen sich die scheinbar erratischen Blöcke der Moderne und des Traditionalismus. In zwei Punkten sind sich die Kontrahenten ohnehin einig: Was die Bomben übrig ließen, reißt man großzügig ab für das Ideal der autogerechten Stadt. Und obsolet erscheint ihnen die Radikalität „schöpferischer Wiederherstellungen“ ruinöser Bauten.
Die Konfrontation der Tradition mit der selbst verschuldeten Zerstörung und der daraus erwachsenen kargen Gegenwart bringt in München Hans Döllgast in der Alten Pinakothek auf den Punkt. So viel Ehrlichkeit und kritische Selbstreflexion möchte man lieber nicht. Diese Bauten bekunden in ihrem Respekt vor der ganzen Geschichte und der Reduktion auf das Notwendigste eine Demut, die noch heute provoziert. In Nürnberg steht der Haltung das Pellerhaus (Egidienplatz) von Fritz und Walter Mayer nahe. Eine sensible Wiederherstellung mit Neubauelementen ohne Imitation von Verlorenem. Trotz Denkmalschutz steht der Abriss zur Disposition. Dabei sind solche Bauten die originellsten Dokumente jenes Jahrzehnts.
Der Architektur- Kultur- und Reisejournalist Rudolf Maria Bergmann ist Autor zahlreicher Beiträge in der nationalen und internationalen Presse sowie in Fachpublikationen aus den Bereichen Kunst, Bau und Geschichte. Als Sachbuchautor ist er Verfasser von kunstwissenschaftlichen Publikationen, Kunstführern und Baumonografien.
barbara münzel
8 / 4 / 2017 | 14:08
Vielen Dank für diesen sehr schönen und informativen Beitrag !
Dominikus Hausmann
10 / 9 / 2017 | 10:28
Danke für diese schöne Zusammenfassung der städtebaulichen Entwicklung der 50er Jahre in Deutschland. In dieser Zeit, die anfänglich ja noch von Mangelwirtschaft geprägt war, sind in ganz Deutschland herausragende Beispiele moderener Architektur entstanden. Was diese Gebäude heute vom damaligen Zustand unterscheidet, ist ihr bauliches Umfeld, in das sie gestellt wurden. In den 50er Jahren befanden sie sich häufig noch inmitten einer zwar vielerorts zerstörten oder beschädigten Architektur- und Stadtlandschaft, trotzdem war meist der Bezug zur historisch gewachsenen Stadt noch nachvollziehbar.
Dieser Bezug zur gewachsenen Geschichte ist erst in den folgenden zwei Jahrzehnten – meist aus ideologisch verklärten Gründen und oft in nicht nachvollziehbarer Brutalität – vernichtet worden. Diese Vernichtung des gewachsenen Lebensumfeldes mindert heute in vielen Fällen die Wirkung einer großen Zahl im Grunde hochwertiger Nachkriegsbauwerke.