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29 / 4 / 2019

Urknall der Rechtsprechung

Die Erweiterung des Memoriums Nürnberger Prozesse

Es ist eine Herkulesaufgabe! Bis 2025 soll das Memorium Nürnberger Prozesse seine Ausstellungsfläche verdoppeln, die Dauerausstellung wird neu konzipiert und ein Besucherzentrum gebaut. In loser Folge wird der Blog über die Baustelle berichten. Hier: Die Planung.

Bei Henrike Claussen laufen die Fäden zusammen. Von der inhaltlichen Frage, wie die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag präsentiert werden soll, über die Vorbereitung von Verhandlungen mit Behörde und Geldgebern bis hin zur Anzahl und Positionierung von Schließfächern und Besuchertoiletten. „Wir machen nicht alles selbst“, winkt sie ab. Für den Bestandsbau im Ostflügel des Justizpalastes ist das Staatliche Bauamt zuständig, für den Neubau das Hochbauamt Nürnberg. Aber vor- und mitdenken muss Claussen ja doch. Und mit den drei zukünftigen Nutzern des Ostbaus – Stadt Nürnberg, Internationale Akademie Nürnberger Prinzipien und Bayerische Justiz – eine gemeinsame Linie finden. „Das große Glück ist die konstruktive Zusammenarbeit“, sagt Henrike Claussen.

Nürnberg als Ort der Weltgeschichte

Wie wichtig das 2010 eröffnete Memorium ist, ist allen Beteiligten bewusst. „Wir sind nicht nur einfach ein Museum. Das Memorium ist ein globaler Ort“, sagt Claussen. „Denn die Nürnberger Prozesse sind ein historisches Ereignis, das nicht nur im deutschen sondern im Gedächtnis vieler anderer Nationen verankert ist. Erst recht, wenn wir anschauen, was daraus geworden ist.“ Nürnberg war, salopp formuliert, der Urknall für die Verfolgung von Kriegsverbrechen und systematischen Menschenrechtsverletzungen. Von hier aus führte der Weg zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der seit 2002 unter anderem Völkermord und Kriegsverbrechen anklagt und ahndet.

Die Erweiterung trägt dieser Bedeutung Rechnung. Im Zentrum des Ausbaus steht der Saal 600, in dem der Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher geführt wurde. Noch heute wird dieser als Schwurgerichtssaal genutzt. Durch den Bau des neuen Strafjustizzentrums, das westlich an den Justizpalast anschließt, kann der historische Ort ab 2020 vollständig in das Memorium Nürnberger Prozesse integriert werden.

Der Saal 600 heute. In ihm finden immer noch Gerichtsverhandlungen statt. Foto: Christine Dierenbach

Allerdings sieht der Saal 600 nicht mehr so aus, wie ihn die Weltöffentlichkeit aus Fotos und Filmen kennt. Denn die Alliierten ließen den Saal für den Prozess, der am 20. November 1945 begann und mit der Urteilsverkündung am 30. September und 1. Oktober 1946 endete, komplett umbauen: Die Anklagebank, auf der die wichtigsten Vertreter von Politik, Partei, Militär und Wirtschaft des NS-Staates saßen, wurde versetzt. Statt des Kronleuchters wurden starke Strahler für die Kameras gehängt und sogar die Rückwand des Saales herausgenommen, um Platz für die Berichterstatter zu schaffen. 1961 wurde dieser Umbau rückgängig gemacht und der Saal in den ursprünglichen Zustand versetzt. Was tun?

Transparenter Blick auf 1945

Ein Rückbau des Rückbaus komme nicht infrage, sagt Henrike Claussen. Zum einen fehlen schlicht die notwendigen Pläne und Informationen, um den Saal orginialgetreu wiederherzustellen, zum anderen sei die aktuelle Situation auch Teil der Geschichte des Saales, in dem unter anderen schon 1925 der Luppe-Streicher-Prozess geführt wurde, in dessen Verlauf sich der Nürnberger Oberbürgermeister Hermann Luppe gegen den NSDAP-Gauleiter Julius Streicher zu verteidigen wusste. „Aber die Menschen wollen 1945 sehen“, sagt Henrike Claussen – auch mit Blick auf die vielen amerikanischen Kreuzfahrttouristen, die das Memorium besuchen. Die geniale Lösung: Auf eine halbtransparente Leinwand, die den Saal teilt, werden Aufnahmen aus dem Nürnberger Prozess projiziert. Die Besucher können so „alt“ und „neu“ unmittelbar nebeneinander sehen.

Die Dauerausstellung, die derzeit mit 650 Quadratmetern im Dachgeschoss des Gebäudes untergebracht ist, wird um 630 Quadratmeter im zweiten Stock des (denkmalgeschützten) Ostflügels erweitert. Quasi eine Verdoppelung. Das erzwingt eine komplette Erneuerung der Dauerausstellung. Für Henrike Claussen eine willkommene Gelegenheit, um die Gewichtung zu verschieben: Hauptkriegsverbrecherprozess, die Nachfolgeprozesse und der Internationale Strafgerichtshof sollen künftig gleich groß dargestellt werden. So können aktuelle Themen, die die Besucher mitbringen – etwa den Krieg in Syrien – besser an die Historie andocken. „Wir wollen die Menschen aktivieren, ihre eigene Meinung zu hinterfragen, und den Blick auf die heutige politische Auseinandersetzung schärfen.“

Bessere Arbeitsbedingungen

Zusätzlich entstehen im 1. Stock des Ostflügels zwei große Räume, in denen das Memorium Bildungsangebote durchführen kann. Außerdem werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bisher im Haus der Pädagogik untergebracht sind, ihre Büros künftig im Gebäude haben. Der Umzug ist für den Jahreswechsel 2020/ 2021 geplant.

Die Mitarbeiterzahl wurde jüngst erheblich aufgestockt. Ab April 2019 werden neben Henrike Claussen vier wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zwei davon in Vollzeit, die neuen Inhalte der Ausstellung und entsprechende Vermittlungsangebote entwickeln. Den Alltagsbetrieb des Memoriums halten zwei Verwaltungsmitarbeiterinnen und ein junger Mensch im Freiwilligen Sozialen Jahr aufrecht. Ebenfalls neu hinzugekommen ist eine volle Stelle für übergeordnete Verwaltungsaufgaben und die Projektkoordination der Erweiterung.

Raus aus dem Regen

Das Besucherzentrum wird direkt nebenan auf dem Gelände der pitstop-Autowerkstatt entstehen. Wie es aussehen soll? Das wird sich bei einem Architektenwettbewerb entscheiden – unabhängig von den Entwürfen, die Studierende der Technischen Hochschule vor einiger Zeit vorgelegt hatten. Als Muss nennt Henrike Claussen eine Lobby für 150 Personen, „aktuell stehen die Besucher im Regen“. Dazu Kasse, Schließfächer und Toiletten sowie Museumsshop und Café. Denn wenn die Infrastruktur stimmt, bleiben Besucher gern länger im Museum. Wünschenswert sei außerdem eine Sonderausstellungsfläche und Platz für das Buchungsbüro. Vom Empfang sollen die Besucher das Memorium zudem trockenen Fußes erreichen können.

All dies ist noch Zukunftsmusik. Die Bauplanung für das erweiterte Memorium ist noch nicht abgeschlossen und der Gestalter für die Dauerausstellung steht noch nicht fest, der Architektenwettbewerb für das Besucherzentrum ist nicht einmal ausgeschrieben … Und doch, es tut sich was. Den langen Atem für die große Aufgabe holt sich Henrike Claussen aus einer simplen Frage, die sie Besuchern, aber auch den Kollegen Museumsmachern gern stellt: „Welchen vergleichbaren Ort gibt es – in Deutschland und in der Welt?“

Der Saal 600 stand auch im Mittelpunkt einer Veranstaltungsreihe des Memoriums Nürnberger Prozesse
„Der 600er. Ein Saal schreibt Geschichte“

Titelbild: Das Memorium Nürnberger Prozesse und der Saal 600 befinden sich im Ostbau des Nürnberger Justizpalastes. Er ist der Sitz des Oberlandesgerichts Nürnberg, des Landgerichts Nürnberg-Fürth sowie des Amtsgerichts Nürnberg. Foto: Christine Dierenbach

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