„Man geht auf Werbetour für die eigenen Objekte“, sagt Urs Latus. Der wissenschaftliche Mitarbeiter des Spielzeugmuseums hat dafür gesorgt, dass sechs seltene Spielzeugmusterbücher, die die frühesten bebilderten Kataloge für Spielwaren sind, nun als Highlights im bavarikon.de vertreten und weltweit zugänglich sind.
Wie das kam – und welche Folgen die Präsentation haben könnte, berichtet Latus, der Kunsthistoriker und Restaurator ist und über ein historisches Thema der deutschen Spielwarenindustrie promoviert hat:
Der Zündfunke
Es gehört zum Alltagsgeschäft der wissenschaftlichen Mitarbeiter in Museen, dass sie den Markt beobachten. Auch im Spielzeugmuseum. Dass bei einer Auktion ein solches Spielzeugmusterbuch angeboten wurde, war der Zündfunke: Der Ankauf kam wegen des „sehr hohen Preises“ leider nicht zustande, aber die Mäzene – Walter und Elisabeth Kurz aus Fürth – waren bereit, das schon zugesagte Sponsoring stattdessen für die Digitalisierung der sechs Spielzeugmusterbücher aus den 1850er bis 1880er Jahren bereitzustellen.
Das bavarikon
Die digitale Aufbereitung war die Voraussetzung dafür, dass sich Urs Latus um die Aufnahme ins bavarikon bemühen konnte. Das Internetportal des Freistaats präsentiert ausgewählte Kunst-, Kultur- und Wissensschätze aus Einrichtungen in Bayern. Sie müssen hochklassig und bedeutend sein, um Aufnahme zu finden: Es finden sich virtuelle Ausstellungen ebenso wie einzelne Objekte, von zarten Naturaquarellen über Bierkrüge bis hin zu Architekturzeichnungen und religiösen Skulpturen. Wer in der illustren Präsentation vertreten sein will, muss sich bewerben.
Erhält ein Kulturschatz dann den Zuschlag, müssen die verfügbaren Informationen aufbereitet und Texte bereitgestellt werden. Sie sollen nicht nur für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verständlich sein, sondern vor allem für das breite Publikum.
Was man über Musterbücher finden kann
Das Problem: Zu Spielzeugmusterbüchern gibt es nur wenig Literatur. Das einzige umfassende Werk ist die Monographie „Die Sonneberger Spielwarenmusterbücher des 19. Jahrhunderts“ von Reinhild und Peter Schneider. Die Nürnberger Eckdaten herauszufinden – etwa: Wer hat die Bücher gemacht? Wer sie vertrieben? Und schließlich: Wer produzierte die vorgestellten? –, bedurfte hartnäckiger Recherche. „Es war ein bisschen Trüffelschweinarbeit, die Daten zu sammeln“, sagt Urs Latus. Nur in einem der Bände fanden sich handschriftliche Notizen zu den Spielwarenherstellern, die in historischen Gewerberegistern der Stadt zu ermitteln sind. Weitere Hinweise entdeckte er im Nürnberger Künstlerlexikon von Manfred H. Grieb. „Aber wenn man für die die eigene Sache brennt, ist das eine schöne kriminalistische Aufgabe.“
Zeugnis sich wandelnder Zeiten
Und eine lohnenswerte dazu. Die Texte, die Urs Latus fürs bavarikon geschrieben hat, sind über eine geraffte Bestandsaufnahme des damaligen Spielwarenangebots hinaus ein wichtiges Zeugnis des Zeitenwandels. Im 18. Jahrhundert hatte sich Nürnberg als „Hauptumschlagplatz des deutschen Spielwarenhandels“ etabliert. Neben den Messen in Frankfurt und Leipzig organisierte der Großhandel seinen Vertrieb nun auch über Reisende, die zuerst mit Mustern der Spielwaren und ab etwa 1830 mit Musterkarten – also Abbildern der Spielwaren – die Einzelhändler besuchten.
Die Musterbücher (ab Mitte der 1830er Jahre) sind eine Weiterentwicklung: Sie fassen ein ganzes Sortiment unterschiedlicher Spielwaren und gelegentlich auch von Haushaltswaren. Baby-Rasseln, Spielsteine und Schachfiguren sind ebenso abgebildet wie Handpuppen, Kindermützen, Spielzeug-Gewehre und -Säbel, Kinder-Kochherde und alle mögliche Alltagsgegenstände im Miniatur-Format.
Weltweiter Zugang zu den Raritäten
Im bavarikon kann man alles nach Herzenslust betrachten. Vier der Bände sind als Highlights veröffentlicht und zwei weitere Bände sind wegen ihres als rassistisch eingestuften Inhalts nicht herausgehoben, aber über die Suchfunktion zu finden. Die betreffende Darstellung wurden zudem von Mascha Eckert, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin am Spielzeugmuseum, mit einem erläuternden Text versehen.
Bei der Digitalisierung der sechs Musterbücher durch die Nürnberger Stadtbibliothek mittels hochauflösender Scanner wurden sogar Umschlagseiten archiviert. „Dass wir die Aufnahmen nun weltweit zur Verfügung stellen können, ist auch ein Schutz für die seltenen Objekte“, sagt Latus. Denn sie müssen nur noch in Ausnahmefällen aus dem Archiv geholt werden, wo sie in lichtgeschützten Kassetten aufbewahrt sind.
Die Spielzeugmusterbücher sind Teil eines „Uraltbestandes“ der Stadt Nürnberg, der bis in die 1960er Jahre im Germanischen Nationalmuseum lagerte. Mit der Gründung des Spielzeugmuseums und auf Initiative von Lydia Bayer kamen sie 1966 zurück ins Spielzeugmuseum.
Die große Welt im Kleinen
Von diesen „typischen“ Nürnberger Erzeugnissen, die die Spielzeugmusterbücher abbilden, sind manche noch erhalten. Im Spielzeugmuseum etwa finden sich Zinnfiguren („eins zu eins wie im Katalog“) oder hölzerne Tierfiguren aus Gröden in Südtirol, die ebenfalls über Nürnberg vertrieben wurde. „Es ist wie heute noch: Spielzeug spiegelt im Kleinen die große Welt“, sagt Urs Latus. Viele der Gegenstände seien als pädagogisches Spielzeug verwendet worden. Und manche sind zeitaktuell wie beispielsweise Modepuppen, die die damalige Alltagskleidung der bürgerlichen Frau trugen oder der schwedischen Oopernsängerin Jenny Lind nachempfunden waren. Gleiches gilt für Eisenbahnen und Dampfmaschinen. Unter einer Abbildung ist sogar vermerkt: „ 6791 – Dampfmaschine in Verkleinerung mit einer Laubsäge (gesetzlich geschützt) zum wirkl. Gebrauch.“
Beeindruckendes künstlerisches Arrangement
Mehr noch als die schiere Menge und Vielfalt der dargestellten Spielwaren ist es die Ausführung der Musterbücher selbst, die Latus als Spielzeug-Experten und Restaurator begeistert. Die Blätter wurden im Steindruckverfahren (Lithografie) gedruckt, und dann per Hand coloriert. Die Farben sind noch frisch. Um bestimmte Artikel hervorzuheben, wurden die Abbildungen teilweise gelackt oder mit Goldbronze bestrichen, teilweise auch Originalmuster eingeklebt. „Buchmalerei wäre zu hoch gegriffen, aber es müssen künstlerisch geschulte Personen gewesen sein, die das arrangiert haben“, bilanziert Urs Latus. Aus einer wilden Mischung von Spielwaren und einigem Nippes schufen sie eine attraktive Kollektion.
Begehrlichkeiten wurden geweckt
Sicher, nicht alle Objekte wurden originalgetreu dargestellt und manches ein bisschen geschönt… „Man hat die Dinge inszeniert, um Begehrlichkeiten zu wecken – wie heute auch“, sagt Latus. Eigentlich sei der Prozess der Spielwarenproduktion und des -vertriebs damals dem heutigen sehr ähnlich. Nur Spielzeug aus fantastischen Welten und Figuren wie Transformers oder Action-Roboter gab es im 19. Jahrhundert natürlich nicht. Auch die Vermarktung entlang einer Verwertungskette – auf Buch oder Film folgt das Spiel oder auch Puppen und später eine Welle von Merchandising-Artikeln über Federmäppchen bis zu Zahnbürste und Babywaschlappen mit Motiv – das kannte man noch nicht.
„Aber wenn man mal den Baukasten anschaut, der wurde schon damals dezidiert als Spielkasten produziert“, sagt Urs Latus. Viele Hersteller nutzten ihre Kenntnis und die vorhandenen Maschinen auch, um neben der Hauptproduktion etwa von Tafelbesteck oder Leuchtern auch Mini-Formate fürs Kinderspiel zu fertigen.
Ungelöste Rätsel
Das alles weiß man. Aber vieles eben auch nicht. Urs Latus hofft nun, dass die Veröffentlichung der Spielzeugmusterbücher im bavarikon.de zu weiterem Erkenntnisgewinn führt. Sei es, dass lithographische Anstalten vielleicht noch damals verwendete Steinplatten auffinden, oder sich ein amerikanischer Sammler meldet… Gern würde der Spielzeugforscher auch in die Tiefe gehen: Die verschlüsselten Preisangaben dekodieren, einzelne Artikel den Herstellern zuordnen und weitere Archivalien dieser Art aus anderen Jahrzehnten finden. Jede neue Information ist ein Mosaiksteinchen, das hilft, das Gesamtbild in allen Facetten zu erkennen.
Sammlung „Nürnberger Spielzeug-Musterbücher aus dem 19. Jahrhundert“ in bavarikon
Ein Blogbeitrag über Urs Latus:
Tatort Museum: Der Alleskönner