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25 / 11 / 2024

„Wie würdest du entscheiden?“

Das Memorium Nürnberger Prozesse entwickelt ein Lernspiel zum Völkerstrafrecht

„Wir sind sehr glücklich über den Auftrag“, sagt Martin Thiele-Schwez, Geschäftsführer von Playing History. Die Berliner Game-Producer werden für das Memorium Nürnberger Prozesse ein Serious Game entwickeln zu einem Thema, bei dem man eher nicht an Spielerisches denkt: das internationale Völkerstrafrecht. „Über das leichtfüßige Medium Spiel bearbeiten wir ein gesellschaftlich relevantes Thema, das wir packend und immersiv erzählen wollen“, erklärt der Spieleentwickler. Eng zusammenarbeiten wird sein Team dabei mit der Kulturmanagerin Theresia Heinz und der Politikwissenschaftlerin Ann-Kathrin Steger. Die beiden Wissenschaftlerinnen sind seit Sommer 2024 im Memorium und damit im Verbund der Museen der Stadt Nürnberg für das Projekt angestellt, in dem das digitale Lernspiel unter dem Arbeitstitel „Krieg, Verbrechen, Urteil? Wie würdest du entscheiden?“ bis Ende 2025 erarbeitet werden soll.

Die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Ann-Kathrin Steger und Theresia Heinz mit Anne Sauer und Dr. Martin Thiele-Schwez von Playing History. Foto: Philip Feldner

Ab 20. November 1945 wurde im Saal 600 des Nürnberger Justizpalasts Weltgeschichte geschrieben beim „Hauptkriegsverbrecherprozess“ des mit Vertretern der alliierten Mächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich besetzten Internationalen Militärgerichtshofs gegen führende Repräsentanten des nationalsozialistischen Staats. An diesem Geburtsort des internationalen Völkerstrafrechts wurde am 21. November 2010 das Memorium Nürnberger Prozesse eröffnet, das in seiner Dauerausstellung auf über 300 Quadratmetern über dieses Gerichtsverfahren sowie über die Nachfolgeprozesse bis 1949 und das daraus erwachsene Völkerstrafrecht informiert.

Rund 140 000 Menschen, die zu circa zwei Dritteln aus dem Ausland kommen, besuchen die Einrichtung jährlich. Wer sich eingehend mit den zahlreichen Dokumenten und Texten beschäftigten möchte, muss in der Ausstellung des Memoriums mit gut zwei Stunden Zeit rechnen. In etwa einer halben Stunde wird man das in deutscher und englischer Sprache angebotene Spiel durchspielen können. „Als kostenlose App wird es vor allem Einzelbesucherinnen und Einzelbesuchern bei ihrem Besuch der Ausstellung zur Verfügung stehen“, sagt Theresia Heinz. Aktuell können sie Audioguides entleihen; interaktive Elemente, die zur vertieften Beschäftigung anreizen, fehlen bislang. Angesichts der herausfordernden Textfülle wird die App eine niedrigere Einstiegshürde bieten: „Durch das Spiel lässt sich Überforderung abbauen“, erklärt Heinz. „Voraussetzung ist, dass wir mit der Agentur den Dreh finden, wie man über das Spiel einen Zugang zu dem komplexen Thema findet.“ Spieleentwickler Thiele-Schwez ist da zuversichtlich: „Abstrahieren, reduzieren und gegebenenfalls fiktionalisieren“, fasst Martin Thiele-Schwez das Vorgehen zusammen und ergänzt: „Mit der App wollen wir keine Konkurrenz der Medien erzeugen. Wenn wir über die spielerische Intervention Interesse für die Ausstellungsobjekte bei einer Zielgruppe wecken, die wir sonst vielleicht nicht erreichen würden, dann haben wir alle gewonnen.“

Per Smartphone wird der Saal 600 zum historischen Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse. Foto: Tim Hufnagl

Durch die Auseinandersetzung mit den Strafgerichtsverfahren des Internationalen Militärtribunals gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs werden die Ausstellungsbesucher mit Fragen konfrontiert, die sich auch im heutigen Völkerstrafrecht stellen. „Wie steht es um die Unparteilichkeit und damit Legitimität der Richter? Sollten Täter auch in Abwesenheit verurteilt werden können? Wie sollten Opfer vor Gericht repräsentiert werden? Wie organisiert man Reparationen?“, nennt Ann-Kathrin Steger einige Beispiele. Anhand von historischen Biographien können die Spielerinnen und Spieler zwischen moralischen Konflikten und politischen Kompromissen lavieren und selbst Lösungen finden für die Aufarbeitung von internationalen Verbrechen.

123 Staaten erkennen den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag an, der in jüngerer Zeit etwa zwei Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin verhängt hat. Russland, die USA, China und Israel gehören allerdings nicht zu diesem Staatenverbund. „Damit schwindet das Vertrauen in das Völkerstrafrecht, dabei ist es wichtiger denn je“, meint Steger, und fragt: „Wie wird es weiter gehen mit dieser so bedeutenden Errungenschaft des vorigen Jahrhunderts?“ Die Zukunftsgewandtheit ist den Wissenschaftlerinnen wichtig, daher weist Theresia Heinz darauf hin: „Die App können wir schneller aktualisieren, als die Dauerausstellung.“

Screenshot aus dem Serious Game „Friedrich Ebert – Der Weg zur Demokratie“, für das Playing History den Deutschen Computerspielpreis 2024 in der Kategorie „Bestes Serious Game“ gewann. Foto: Playing History

Mit den Expertinnen und Experten von Playing History wollen Heinz und Steger bis März 2025 die Inhalte ausarbeiten, so die möglichen Rollen, die die Spielerinnen und Spieler einnehmen können. „Bei den Anklägern sind die unterschiedlichen Perspektiven der Alliierten interessant. Die Strategien der Verteidiger unterschieden sich. Auch die Analysten, die für die Ankläger recherchierten, die Dolmetscherinnen und Dolmetscher, Zeuginnen und Zeugen, auch die Nürnberger Bürgerschaft … viele Rollen kommen in Frage“, umreißt Ann-Kathrin Steger das weite Spielfeld. Viel Arbeit kommt auf die Kolleginnen und die Experten aus Berlin zu: Zu entscheiden ist, wie viel und welches Material sie einbauen wollen und wie es als Spiel funktioniert, ob wissenschaftlich und rechtlich alles abgesichert ist, bis hin zu Fragen der Ästhetik und dem Einsatz etwa von Soundeffekten. Damit auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen die App nutzen können, soll das Spiel möglichst barrierefrei sein.

Das Team von Playing History bei der Verleihung des Deutschen Computerspielpreises 2024. Foto: Playing History

Finanziell gefördert wird das Projekt vom Bundesministerium für Finanzen in der Bildungsagenda NS-Unrecht der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Kooperationspartner sind neben dem Haus des Spiels im Museumsverbund der Stadt das Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt a.M. sowie die Studiengänge „Game Design und Management“ und „Mediendesign und Management“ der Hochschule Fresenius in München. Die Studierenden werden die ersten sein, die im kommenden Sommer das Serious Game in der Testphase ausprobieren können.

Weitere Infos:
playinghistory.de
memorium-nuernberg.de


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