Das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände geht Anfang Oktober 2022 „out oft he box“, um sich in konzentrierter und doch entspannter Atmosphäre mit Fachkolleginnen und -kollegen aus dem Museums- und Wissenschaftsbetrieb auszutauschen.
So treffend visualisierte der Nürnberger Graphic Recorder Max Höllen die Aufgabe der dreitägigen internationalen Fachtagung „Nationalsozialismus ausstellen. Zugänge, Perspektiven und Herausforderungen im 21. Jahrhundert“, die das Team des Dokumentationszentrums im C.-Pirckheimer-Haus organisiert hatte.
Warum tagen?
Die Antworten liegen auf der Hand: Das Dokuzentrum arbeitet aktuell an der Konzeption für eine neue Dauerausstellung – 2025 soll Eröffnung sein. Und für den Umgang mit den bröckelnden baulichen Hinterlassenschaften der Nazis müssen wir sinnvolle Antworten finden.
Doch was macht eine gute Ausstellung, insbesondere zum Themenkomplex Nationalsozialismus, aus? Noch dazu im historischen Gebäude? Wie trifft man quasi jetzt schon Geist und Anspruch der Besucherinnen und Besucher der Zukunft?
Unsere Überzeugung: Nur im Austausch mit den Fachkolleginnen und -kollegen können die Herausforderungen bei der Geschichtsvermittlung im 21. Jahrhundert angegangen werden.
- Gibt es eine Meistererzählung des Nationalsozialismus? Oder sogar mehrere? Und wer darf sie erzählen?
- Wo sind Leerstellen und Forschungslücken? Müssen wir weiter als bisher und vielleicht in andere Richtungen über den eigenen Tellerrand hinaus blicken?
- Wie sieht Geschichtsvermittlung in einer diversen, migrantischen Gesellschaft aus nach Ende der Zeitzeugengeneration?
- Welche Rolle spielen dabei materielle Zeugnisse wie zeitgenössische Bauten auf dem Reichsparteitagsgelände oder andernorts in Nürnberg und Objekte oder Fotos aus der wachsenden Sammlung unseres Museums?
- Und ist Geschichte überhaupt noch relevant in Zeiten von Krieg, Klima- und Energiekrise?
Dies und noch viel mehr wollten wir – gerne auch kontrovers – diskutieren, uns Expertise einholen, von Best-Practice-Beispielen lernen und dabei auch unsere Arbeitsweise auf den Prüfstand stellen: Das heißt auch, historiografische Hegemonie abgeben und – Stichwort Transparenz – Einblicke die kuratorischen Überlegungen unseres Teams zulassen.
Wen einladen?
Gar nicht so einfach! Eine gute Mischung sollte es sein: Experten und Expertinnen aus anderen Ausstellungshäusern, aus der nationalen und internationalen Wissenschaftscommunity, der Didaktik und von jüngeren partizipativen Projekten.
Trotz allerlei Hürden konnte unser Team schließlich 24 engagierte Vortragende für das Treffen in Nürnberg gewinnen – geballte Kompetenz, die sich sehen lassen konnte! Und besonders gefreut haben wir uns über Zusagen aus Österreich, England und den Niederlanden.
Wen interessiert`s?
Natürlich in erster Linie uns als Team des Dokuzentrums – schließlich haben wir eine neue Dauerausstellung zu gestalten und müssen mit den Bauten vor Ort arbeiten. Aber erfreulicherweise auch sonst noch eine ganze Menge Fachpublikum, das sich offensichtlich mit den gleichen Fragestellungen herumplagt. Die Teilnehmenden kamen aus Häusern der gesamten Republik, Museen, Dokuzentren und Gedenkstätten, von München über Köln, Hamburg und Berlin, Dachau und Flossenbürg, Friedrichshafen, Bonn und Mainz – um nur einige Orte zu nennen. Und auch Kolleginnen und Kollegen aus dem Großraum waren bestens vertreten.
Erfreulicherweise brachten alle eigene Erfahrungen im Ausstellungs- bzw. Vermittlungsbetrieb mit. So konnte konnte auf allen Fachebenen unmittelbar ein intensiver Austausch über Ideen, Erfahrungen und Zukunftskonzepte beginnen.
Verfolgt wurde die Tagung analog und digital einschließlich der digitalen Beteiligung im Chat, was für unser Haus ein Novum war.
Wie austauschen und über was?
Wie spricht man über „Nationalsozialismus ausstellen“? Auch wenn Wissenschaft wichtig ist – endlose Monologe bei Vorträgen wollten wir vermeiden. Uns war ja insbesondere am Austausch gelegen. Dafür bewährten sich unterschiedlichste Formate, vom Vortrag über Podiumsdiskussionen bis hin zu Workshops, mit ausreichend Zeit für Fragenrunden. Dass wir damit einen Nerv trafen, zeigten nicht nur äußerst rege Diskussionen auf dem Podium sowie mit dem Publikum im CPH und an den Bildschirmen, sondern auch das zahlreiche positive Feedback der Beteiligten.
Zudem war uns im Vorfeld schnell klar, wir brauchen Beispiele. Wir müssen uns anschauen, wie man es andernorts macht. Genau diese Anschaulichkeit in den Präsentationen war es, die zu vielen Aha-Erlebnissen führte: Man holte sich Anregungen, verstand, wie andere Herausforderungen gelöst haben, bekam Mut zur Lücke zugesprochen und bemerkte, überall ringen die Kultureinrichtungen damit, gesellschaftliche und erinnerungskulturelle Veränderungen für ein sich wandelndes Publikum zu berücksichtigen.
Doch der Austausch erfolgte nicht nur während der Sitzungen. Mindestens ebenso wichtig war der informelle Austausch in den Pausen, in denen wir dank des zuvorkommenden Service im tagungshaus CPH äußerst gut versorgt waren. Diese Gespräche sind eigentlich die interessantesten: Neue Kontakte konnten geknüpft und Verabredungen für künftige Projekte getroffen werden. Der Wunsch nach Verstetigung vergleichbarer Treffen wurde laut.
Ein ganz besonderes Highlight und Anlass zu zahlreichen Gesprächen war die erstmals von uns in diesem Themenbereich erprobte Form der visuellen Tagungsdokumentation. Max Höllen, der immer wieder digital zugeschaltet wurde, gelang es durch seine Graphic Recordings nicht nur, die Kernthesen der Veranstaltungen auf Papier festzuhalten, sondern auch die äußerst angeregte Stimmung im Saal. Wir alle bekamen einen anderen, neuen, frischen Blick auf unsere eigene (Fach-)Welt – und dieser Perspektivwechsel tut gut!
Was bleibt – und „wofür steht Nürnberg jetzt eigentlich“?
Zugegebenermaßen, zweitweise waren wir als Team ziemlich ratlos. So wurden auf dem Podium oft mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Aber wahrscheinlich muss das so sein, schließlich haben wir auch eine äußerst komplexe Aufgabenstellung zu bewältigen. Doch was bleibt als Fazit?
Vor allem das Angebot, weiterhin mit den Kolleginnen und Kollegen im Austausch zu bleiben und sich im Zweifelsfall Rat von extern einzuholen. Aber insbesondere auch die Ermutigung, den in Nürnberg mit der Interimsausstellung und den daraus resultierenden konzeptionellen Überlegungen eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Wir wurden bestärkt in unserem Vorhaben, vom eigenen Ort ausgehend Schneisen in die nationale und internationale Geschichte zu schlagen – „glocal history“ sozusagen. Wir wurden ermutigt, in der Ausstellung unsere (kuratorischen) Entscheidungen transparent zu machen, Leerstellen zu benennen und über Fragen, Zweifel und Entscheidungsprozesse zu informieren.
Wir haben aber auch gelernt, dass wir über Stichworte wie „Gewalterfahrung“, „Gendergeschichte“ oder „Partizipation“ noch einmal gesondert nachdenken und, aufbauend auf der unabdingbaren wissenschaftlichen Basis, die Ausstellung zwingend von unserem zunehmend diverseren Publikum aus denken müssen. Dabei blieb hängen: Lieber weniger Objekte zeigen und Themen ansprechen, diese aber gut kontextualisieren. Nur so können die Menschen Geschichten sinnlich erfahren und sich noch daran erinnern, auch wenn sie das Museum längst verlassen haben.
Und über allem schwebt die wichtige Frage: Nicht nur WIE ausstellen, sondern vor allem WESHALB und FÜR WEN?
Für all das soll Nürnberg und das Dokumentationszentrum künftig stehen: Für die Kombination aus historischen Bauten, wissenschaftlicher, aber ebenso ansprechender Ausstellung und neuartigen Vermittlungsformaten, sowie für einen transparenten Umgang mit offenen Fragestellungen und Desideraten. Das „Team Dokuzentrum“ oder – aus der Außensicht das „Team Nürnberg“ – steht nach der Tagung aber auch für einen intensiven und offenen Austausch. Dafür sei an dieser Stelle allen, die ihren Teil dazu beigetragen haben, ganz herzlich gedankt!
Und wenn Sie wissen möchten, was pinke Hasenohren, Toilettendeckel oder die „eierlegende Wollmilchsau“ mit dem Thema „Nationalsozialismus ausstellen“ zu tun haben, schauen Sie doch einmal rein in unsere Bildergalerie oder streamen bis zum 08.01.2023 nochmals die einzelnen Veranstaltungen der Tagung!
Rückblick zur Tagung „Nationalsozialismus ausstellen“
Dr. Martina Christmeier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Ausstellungskuratorin am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände. Daniela Harbeck-Barthel M.A. ist Museologin und am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände für Sammlung und Dokumentation verantwortlich.