Wie alles begann
Ende 2019 bewerben wir uns auf eine Ausschreibung des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Wir, das ist das Büro Lendler Ausstellungsarchitektur in Berlin. Das Projekt: die Gestaltung der neuen Interimsausstellung. Der Ort ist uns nicht unbekannt. Für das Dokumentationszentrum haben wir bereits 2017 die Ausstellung „Albert Speer in der Bundesrepublik“ entworfen. In der riesigen Ausstellungshalle entstand eine begehbare Skulptur, große Projektionen zeigten typische Szenen aus den vielen Interviews des Protagonisten Albert Speer.
Unser Beitrag für den neuen Wettbewerb entwickelt diesen Gedanken weiter: Exponate, Bilder, Filme und Texte setzen wir zu raumgreifenden Elementen zusammen. Sie vermitteln zwischen den gewaltigen Dimensionen der Ausstellungshalle und dem menschlichen Maßstab der Besucherinnen und Besucher.
Hier bewährt sich der besondere Gestaltungsansatz unseres Teams. Grafikerinnen, Medienspezialisten und Architekten sind gleichberechtigte Partner. So entstehen begehbare Raumbilder, in denen Zweidimensionales, Dreidimensionales und bewegte Bilder verschmelzen. Wir bekommen den Zuschlag!
Die Ausstellung entsteht
Die Vorbereitung einer Ausstellung ist ein vielschichtiger Vorgang. Am Anfang steht das Thema, hier die Geschichte des Reichsparteitagsgeländes. Der Titel der Interimsausstellung lautet: Nürnberg – Ort der Reichsparteitage. Inszenierung, Erlebnis und Gewalt. Das wissenschaftliche Team des Dokumentationszentrums stellt ein inhaltliches Konzept zusammen. Dazu gehört auch die Suche nach geeigneten Exponaten.
Unsere Gestaltung baut auf diesem Konzept auf. Zudem nehmen wir den Ausstellungsraum in den Blick. Darin ordnen wir die Themen so an, dass für die Betrachter ein sinnvoller Rundgang entsteht.
Die anspruchsvollste Gestaltungsaufgabe besteht darin, für die unterschiedlichen Themenbereiche passende räumliche Bilder zu finden. Denn Wissenschaftler und Gestalter sprechen unterschiedliche Sprachen. Hier die Inhalte, Thesen und Exponate, dort die „gebauten Bilder“, die für Besucherinnen und Besucher auf den ersten Blick erkennbar sein sollen. Wie in einer guten Übersetzung entsteht aus der Sprache der Wissenschaft die Bildsprache einer anschaulichen Ausstellung. So wird die Präsentation selbst Teil der Vermittlung.
Ein Modell, das kein Modell sein soll
Einen guten Überblick über das Reichsparteitagsgelände könnte ein Modell der riesigen Anlage bieten. Bis heute beeindruckt die schiere Größe der damaligen Planung. Auf Wunsch des Dokumentationszentrums soll genau diese Wirkung eines klassischen Aufsichtsmodells jedoch nicht wiederholt werden, da solche Großmodelle Teil der nationalsozialistischen Propaganda waren. Gewünscht ist eine andere Form der Darstellung mit einem frischen, neutralen Blick auf das Areal.
Die Besucherinnen und Besucher treffen nun auf eine Kombination verschiedenster Formate in einem raumgreifenden Möbel. Ausgehend von einem sehr reduzierten, schematischen Relief, führen Filmsequenzen durch die Geschichte und wieder zurück. Projizierte Schattenwürfe zeigen an, welche Bauten in welcher Form entstanden. Gedruckte Steckbriefe erläutern einzelne Gebäude. Ein Vergleich mit der Nürnberger Altstadt als einer gewachsenen europäischen Stadt macht die Dimensionen des Geländes deutlich. Digitale Stationen setzen die Ausdehnung ins Verhältnis zu anderen bekannten Orten rund um den Globus. Diese unterschiedlichen Blickwinkel zeigen die Entwicklung, Ausdehnung und Nutzung des Geländes bis heute in abwechslungsreicher und unterhaltsamer Form.
Schwebende Bildwände
Nicht nur das Reichsparteitagsgelände ist riesig, auch die Ausstellungshalle zeigt gewaltige Dimensionen. Auf der Grundfläche von knapp 600m² und 11 m Deckenhöhe verlieren sich übliche Ausstellungswände und Vitrinen. Um die vier vorgegebenen Epochen voneinander zu trennen, schlagen wir vor, große Bilderflächen von der Decke zu hängen. Sie zeigen Motive des Geländes, gliedern die Halle und leiten die Besucher zwanglos durch die vier Bereiche. Doch wie große Modelle können auch manche Propagandafotos noch heute beeindrucken und die intendierte Botschaft weitertragen. Gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Team finden wir eine Lösung: Durch den weitergehenden Verzicht auf Propagandabilder und den Fokus auf privaten Aufnahmen und Filmausschnitten in Zeitlupe entsteht ein neuer Blick auf die Reichsparteitage, ein Blick hinter die Kulissen. Und genau darum handelt es sich bei vielen der geplanten Bauwerke. Sie sind Kulissen für den Aufmarsch von zehntausenden Teilnehmern, die die scheinbare Einheit des Volkes vorführen.
„Nürnberg-Erlebnis“
Die Reichsparteitage waren Massenveranstaltungen. Doch die Motive zur Teilnahme daran waren vielfältig, genauso wie die Haltungen gegenüber dem Nationalsozialismus. Von einigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern sind Aufzeichnungen überliefert. Das wissenschaftliche Team möchte diese Vielstimmigkeit in der Ausstellung präsentieren. Doch statt langer Texte schlagen wir eine mediale Umsetzung des sogenannten „Nürnberg Erlebnis“ vor. Als gezeichnete Personen treten die Protagonisten im Stil eines Kartenspiels auf. Ihre Portraits zeigen die ersten Unterschiede, Alte und Junge, Frauen und Männer, Arbeiter und Anzugträger sind darunter. Ihre Sichtweisen auf die Parteitage werden beim Antippen der Karten sichtbar. Die Zitate, Berichte und Erinnerungen bilden die ganze Bandbreite der Haltungen ab. Von glühender Verehrung bis tiefe Verachtung findet sich alles. So blicken die heutigen Besucherinnen und Besucher aus der Perspektive der damaligen Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf das historische Geschehen.
Wir wünschen den Besucherinnen und Besuchern viele interessante Erfahrungen an diesem historischen Ort und dem Dokumentationszentrum viel Erfolg mit der Ausstellung.
Das Gestaltungsteam von Lendler Ausstellungsarchitektur: Jenny Hasselbach, Jens Wunderling und Rainer Lendler.
Weitere Informationen zur Interimsausstellung des Dokumentationszentrums
Ein „Trailer“ erlaubt auch bereits Einblicke in die Ausstellung