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26 / 3 / 2019

„Wir setzen diese Arbeit fort!“

Politisch, inklusiv und virtuell: Ausstellungen in São Paulo/ Brasilien

70 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war der Anlass für die Publikation und Präsentation eines Buches mit Beiträgen bekannter Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller in Brasiliens Wirtschaftsmetropole São Paulo. Seitens der Stadt Nürnberg war Astrid Betz, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, zum Festakt eingeladen. Im Rahmen der Reise hielt sie einen Vortrag in der Scuola Superior do Ministéro Publico und besuchte eine Reihe von Ausstellungen. Sie war beeindruckt mit welcher Selbstverständlichkeit Gedenkstätten und Museen in São Paulo barrierefrei und inklusiv gestaltet sind.

Im ehemaligen Polizeipräsidium der Militärdiktatur (1964-1985), in dem politische Oppositionelle in Willkür festgehalten, gefoltert und ermordet wurden, ist heute die Gedenkstätte „Memorial da Resistencia“. Die ehemaligen Gefängniszellen sind der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. An den Wänden hängen historische Informationen, Fotografien und Zeittafeln. Zeitzeugen kommen auf Bildschirmen zu Wort und berichten über Verfolgung und Folter. Die Teilhabeforderung der Behindertenrechtskonvention ist hier ganz selbstverständlich eingelöst.

Taktile Stationen im Memorial da Resistencia: Beim Abnehmen der Tafeln entdecken die Besucherinnen und Besucher Informationen. Maurice Politi, Häftling zur Zeit der Militärdiktatur, unterstützt die Gedenkstättenarbeit in der Recherche und Vermittlung.

Auf allen Bildschirmen mit Zeitzeugeninterviews ist auch ein/e Gebärdendolmetschende/r zu sehen, der/die das Interview in Gebärdensprache übersetzt. Zusätzlich stehen Kopfhörer mit audiodeskriptiven Beiträgen für Menschen, die nicht oder nur wenig sehen können, zur Verfügung. Auf dem Boden helfen Bodenleitlinien den Besucherinnen und Besuchern mit Seheinschränkung, ihren Weg durch die Ausstellung zu finden. Taktile Stationen sind an den Wänden: Hinter quadratischen Tafeln befinden sich Informationen zu Orten, die während der Militärdiktatur zum Schauplatz des couragierten Widerstandes und von Gewaltmaßnahmen wurden.

Im gleichen Gebäude befindet sich eine Kunst-Ausstellung zu sämtlichen Artikeln der Menschenrechte sowie zu den Ureinwohnern/innen São Paulos. Die Leiterin der Gedenkstätte, Marilia Bonas, gibt sich entschlossen: „Wir setzen diese Arbeit fort. Wir werden auch in Zukunft die Themen bearbeiten, die wir für wesentlich halten. Hierzu zählen die Geschichte Brasiliens indigener Bevölkerung und der Schutz von Minderheiten.“ Gleich im Januar übertrug der neue brasilianische Präsident Jair Bolsenaro die Verantwortung für die Festlegung und Demarkierung des Landes von Ureinwohnern/innen vom Justiz- auf das Landwirtschaftsministerium. Seither fürchten viele Brasilianerinnen und Brasilianer die Abschaffung von Schutzvorschriften für die brasilianischen indigenen Völker. Das Memorial da Resistencia feiert 2019 sein zehnjähriges Bestehen. Viele Schulklassen befassen sich hier mit der jüngeren Geschichte Brasiliens.

Gebärdendolmetschende und Hörstation in der Ausstellung Île Ayê für hör- und seheingeschränkte Besucherinnen und Besucher.

Im Kulturinstitut Itaú Cultural im Stadtteil Paulista beschäftigt sich die Ausstellung „Île Ayê“ mit dem ersten Afro-Block, einer ausschließlich aus afrikanischstämmigen Mitgliedern bestehenden Tanzgruppe. Während der Diktatur war es nicht möglich, öffentlich Themen wie Rassendiskriminierung anzusprechen. Versteckt Kritik geübt wurde aber im Karneval. 1975 tauchte im Karneval von Salvador der erste politische Afro-Block auf: Ilé Aiyé. Eine Gruppe junger Schwarzer mit bunten Gewändern ging durch die Straßen, trommelte afrikanisch anmutende Rhythmen und sang davon, dass schwarze Menschen schön seien. „Île Ayê“ brach damit ein Tabu. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der brasilianische Karneval ausschließlich aus weißen Tanzgruppen bestanden. Das änderte sich nun rasant. Der Name „Île Ayê“ bedeutet „Heimat für immer.“ Diese erste Gruppe fand viele Nachfolger. „Île Ayê“ gilt als Begründer einer eigenen Musik- und Kulturrichtung, einer Mischung von Samba und Reggae gepaart mit politischen Botschaften.

Die Ausstellung Île Ayé ist farbenfroh gestaltet und lädt zum „Mitmachen“ ein. Sie ist in jeder Hinsicht inklusiv und politisch, ohne dass dies in irgendeiner Weise belehrend wirkt. Vielmehr überträgt sie Lebensfreude und Offenheit.

Tastmodell eines afrikanischen Frauenkopfes in der Ausstellung Île Ayé im Itaú Cultural.

Hinter einer Glaswand sind Menschenpuppen mit aufwändigen Kopfbekleidungen. Davor steht das Tastmodell eines afrikanischen Frauenkopfes. Neben allen anderen Informationstafeln und Schaukästen befinden sich Bildschirme mit Gebärdendolmetscherinnen und -dolmetschern sowie Hörstationen mit Kopfhörern zum Anhören audiodeskriptiver Beschreibungen. In einem eigenen Trommelraum ist es Besucherinnen und Besuchern erlaubt zu trommeln. Die Leitlinien am Boden führen die Besucherinnen zu Tast-, Hör- und Sehstationen.

Ein Stockwerk höher beschäftigt sich eine weitere Ausstellung mit Kunstgraphiken aus der Sammlung des Hauses.

Aus der Sammlung Itaú Cultural stammt beispielsweise Edward Munchs „Mädchen auf der Brücke“, das in der Ausstellung an einer Wand hängt und zusätzlich als Tastgraphik an einem unterfahrbaren Wandtisch zum Erfühlen angebracht ist. Eine Gruppe jüngerer Menschen mit Einschränkungen ist an verschiedenen taktilen Kunstobjekten zu sehen. Als ein blinder Besucher mich anlächelt, irritiert mich das kurz. Ich frage eine Person, die zum Museumspersonal zu gehören scheint und sie bestätigt mir, dass an diesem Tag die Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter die inklusiven Angebote testen. Sie wollen herausfinden, ob der oder die blinde Besucherin sich die Ausstellung gut erschließen kann, ebenso wie andere Besucher, die möglicherweise Bewegungs- oder Höreinschränkungen haben. Auch in diesem Stockwerk sind Leitlinien am Boden.

VR-Brillen entführen in verborgene Bibliotheken dieser Welt

Das Kulturinstitut SESC steht für die Öffnung der brasilianischen Kulturlandschaft nach den Jahren der Militärdiktatur. Die Ausstellung „A biblioteca à noite“ des Kanadischen Künstlers Robert Lepage führt meine neuen Bekannten aus der Hauptstadt Brasilia und mich zunächst in eine nachgebaute Bibliothek, in der unser Begleiter, ein Museumspädagoge, uns in die Geschichte der Bibliotheken einführt. Dann öffnet sich eine Schrankwand und wir betreten den bis dahin verborgenen Lesesaal. Der Raum ist schlicht mit Tischen und Drehstühlen ausgestattet, Birkenstämme schweben an einigen Stellen im Raum. Wir bekommen alle eine VR-Brille. Unsere Augen navigieren uns in die Welt untergegangener oder schwer zugänglicher Bibliotheken auf der ganzen Welt. Ich sehe die Bibliothek der Priester des Kloster Admont in Österreich, die Bibliothek im Rathaus von Sarajevo, die 1992 im Krieg zerstört wurde, eine Bibliothek in Kopenhagen, deren Bücher in keiner Datenbank zu finden sind. Atemberaubend nah kommt mir die geheimnisvoll schillernde Welt der Bibliotheken.

Autoren und Herausgeber bei der Buchpräsentation „70 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ im Praça das Artes in São Paulo: Prof. Fabián Raimondo, Jurist aus Maastricht, Dr. Astrid Betz, wiss. Mitarbeiterin am Dokumentationszentrum Nürnberg, Ehepaar Andrea und Prof. Flávio de Leão Bastos Pereira, Juristen aus São Paulo.

Kunst- und Kulturschaffende in Brasilien sind sich dessen bewusst, dass sie in den vergangenen Jahren neue Wege beschritten haben und es in naher Zukunft für etliche Projekte nicht einfach wird, Unterstützung staatlicherseits zu finden. „Wir stellen uns dieser Aufgabe und werden unseren Weg gehen“ sagt die Leiterin des Memorial da Resistencia. „Memorial per todos“ – „Gedenkstätte für alle“ ist im Eingangsbereich des Memorials in Brailleschrift zu lesen, und dieses Versprechen hält auch die Ausstellung.


Astrid Betz, Theaterwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände, ist verantwortlich für das Veranstaltungsprogramm und den Bildungsbereich des Dokumentationszentrums sowie Beauftragte für Inklusion der Museen der Stadt Nürnberg.

Bildnachweis für alle Fotos: Astrid Betz

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