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28 / 9 / 2016

Der Glaube an das Völkerrecht

Nürnberger Prozesse im Licht des Historikertages

Nürnberg zieht – jedenfalls auf dem deutschen Historikertag. Der größte geisteswissenschaftliche Kongress Europas fand vom 20. bis 23. September 2016 in Hamburg statt. Diskutiert wurde dabei auch über die Nürnberger Prozesse.

„Glaubensfragen“ war das Motto der vom Verband der Historikerinnen und Historiker zweijährlich organisierten Leistungsschau der Zunft. So musste das Panel zu den Nürnberger Prozessen dem Oberthema zumindest im Untertitel eine Referenz erweisen. „Nürnberg, 70 Jahre danach. Oder: der Glaube an das Völkerrecht“ lautete der Titel der Sektion, bei der vier Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre neuen Forschungen vorstellten.

Mehr als 200 Interessierte drängelten sich in den Hörsaal M, als Norbert Frei, einer der renommiertesten deutschen Zeithistoriker, als Moderator die Veranstaltung eröffnete. Unter den Zuhörinnen und Zuhörern waren nicht nur Studierende, sondern auch wohlbestallte Professoren der Zeitgeschichte wie Ulrich Herbert aus Freiburg oder Martin Sabrow aus Berlin.

Der Moderator Norbert Frei begrüßt das Publikum und stellte die Referenten vor: Daniel Stahl, Kim Christian Priemel, Annette Weinke, Jan Gerber (von links nach rechts).

Der Moderator Norbert Frei begrüßt das Publikum und stellte die Referenten vor: Kim Christian Priemel, Annette Weinke, Jan Gerber (von links nach rechts).

Wege aus Nürnberg

Kim Christian Priemel, frisch berufener Associate Professor der Universität Oslo, stellte Akteure der Nürnberger Prozesse und ihre Deutungen des ersten internationalen Strafprozesses der Geschichte vor. Dabei legte er die telelogischen Sichtweisen frei, die Nürnberg als Ausgangspunkt einer Erfolgsgeschichte des internationalen Rechts verklären. Priemel stützte sich auf seine soeben erschienene Habilitationsschrift, dem neuen Standardwerk zu den Nürnberger Prozessen (The Betrayal. The Nuremberg Trials and German Divergence, Oxford: Oxford University Press 2016).

Kim Christian Priemel, Associate Professor der Universität Oslo.

Kim Christian Priemel, Associate Professor der Universität Oslo.

Akteure statt Strukturen

Nicht die Strukturen, sondern die Akteure standen auch im Zentrum der anderen Beiträge. So untersuchte Annette Weinke, Privatdozentin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Autorin einer transnationalen Diskursgeschichte des Völkerstrafrechts (Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein Verlag 2016), die Gruppe der „émigré lawyers“ im Kontext der Nürnberger Prozesse. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem Völkerrecht, das in der Zwischenkriegszeit zur politischen Waffe im Kampf um Minderheitenrechte in Mittel- und Osteuropa wurde, standen die aus Deutschland und Österreich emigrierten Juristen dem moralischen Anspruch, den der amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson mit den Prozessen gegen die Spitzen des NS-Regimes proklamierte, skeptisch gegenüber. Trotz aller Kritik unterstützten Rechtswissenschaftler wie Hans Kelsen mit ihrer Expertise Jacksons Team und nahmen so Einfluss auf Vorbereitung und Verlauf des Nürnberger Prozesses.

Annette Weinke, Friedrich-Schiller-Universität Jena, in der Diskussion.

Annette Weinke, Friedrich-Schiller-Universität Jena, in der Diskussion.

Sozialisten für den US-Geheimdienst

Zu den „Emigrantenjuristen“, die im Kampf gegen Nazi-Deutschland für den amerikanischen Nachrichtendienst OSS arbeiteten, gehörte auch Franz Neumann. Mit seiner 1942 veröffentlichten Studie „Behemoth“, in der er das NS-Regime als einen „Unstaat“ mit den rivalisierenden Machtzentren Ministerialbürokratie, Militär, Partei und Großindustrie beschrieb, hatte Neumann maßgeblichen Einfluss, besonders auf den Zuschnitt der von den USA im Alleingang durchgeführten Nürnberger Nachfolgeprozesse. Jan Gerber, Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts in Leipzig, stellte Neumanns widersprüchliche Haltung zu den Völkerstrafrechtsprozessen dar. Zentrale staatsrechtliche Kategorien wie die Souveränität erschienen dem sozialistischen Juristen durch das Nürnberger Projekt unterhöhlt.

(Selbst-)Funktionalisierung einer Biografie

Daniel Stahl, Mitarbeiter der Friedrich-Schiller-Universität Jena, widmete sich Benjamin Ferencz, dem letzten noch lebenden Ankläger aus einem der Nürnberger Prozesse. Der 1920 in Siebenbürgen geborene Ferencz führte 1947 die Anklage im Nürnberger Nachfolgeprozess gegen Kommandeure von Einsatz- und Sonderkommandos der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS. Der Ankläger im „größten Mordprozess der Geschichte“ (Ferencz) – die Einsatzgruppen erschossen seit dem Sommer 1941 etwa eine halbe Million Menschen in der Sowjetunion – setzte sich seit den 1970-er Jahren für die Durchsetzung des Völkerstrafrechts ein. Symbolisch eröffnete er 2009 das Plädoyer der Anklage im ersten Prozess des Internationalen Strafgerichtshofs. Ein Jahr darauf war er Ehrengast bei der Eröffnung des Memoriums Nürnberger Prozesse. Damit verkörpert er die von Völkerstrafrechtlern und Politologen so oft beschworene Kontinuität von Nürnberg nach den Haag. Stahl, der mit Ferencz ein lebensgeschichtliches Interview für den „Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert“ geführt hatte, betonte, dass Ferencz seine Biografie funktionalisiert und bereitwillig funktionalisieren lässt im Sinne einer Erfolgsgeschichte des Völkerstrafrechts.

Rechtsprechung und Geschichtsschreibung

In seinem Kommentar wies Raphael Gross, Leiter des Simon-Dubnow-Insituts in Leipzig, auf die symbolische Dimension Nürnbergs als Prozessort hervor. Mit den Referenzen an die Stadt der Reichs- und Reichsparteitage erhob er Nürnberg zum bedeutenden „lieu de mémoire“ der deutschen Geschichte.

Christoph Safferling, Professor der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, kommentiert die Vorträge der Referenten.

Christoph Safferling, Professor der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, kommentiert die Vorträge der Referenten.

Das letzte Wort aber gehörte keinem Historiker, sondern einem Juristen. Christoph Safferling, Professor für Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, erinnerte die versammelten Historikerinnen und Historiker an die Besonderheiten der Völkerstrafrechts aus juristischer Sicht. Deutlich wurde dabei einmal mehr, dass die juristischen Perspektiven auf die Nürnberger Prozesse nicht deckungsgleich mit den historischen sind. Dass Safferling, der dem Memorium Nürnberger Prozesse als Sprecher des wissenschaftlichen Beirats verbunden ist, für die Informations- und Dokumentationsstätte am historischen Ort warb, freut uns sehr. Mögen viele der Zuhörerinnen und Zuhörer der Einladung nach Nürnberg folgen und das Memorium besuchen!

Informationen zur Festveranstaltung zum 70. Jahrestag des Urteils im Nürnberger Prozess

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